Manni war fünf Jahre älter als ich, studierte bereits und besaß ein BMW 25/3 Motorrad, an dessen Seite ein Steib Beiwagen befestigt war. Ein sensationell pittoreskes Gespann, für das heute so mancher Liebhaber seine Oma verschachern würde. In deren Hühnerstall könnte man damit allerdings nicht fahren, dazu war das Gespann zu voluminös und unflexibel in der Handhabung, und dass die kleine BMW keinen Rückwärtsgang besaß, versteht sich von selber. Daher war für den Fahrer Schieben angesagt, wenn es mal nicht mehr weiter vorwärts ging.
Abgesehen davon, dass wir ohnehin Buddies waren, schätzte Manni mich sehr als Passagier im Beiwagen. Damals ein echter Hänfling war ich einerseits nicht schwer genug, um die schwachbrüstige BMW mit ihren 13 (in Buchstaben: Dreizehn) PS völlig auszubremsen, andererseits aber schwer genug, um den Steib LS 350 in Rechtskurven am Abheben zu hindern. Da ich jung und furchtlos war, lehnte ich mich notfalls auch schon mal weit aus dem Wagen, denn Manni fuhr durchaus einen flotten Reifen, und die kurvige Eifel war nicht weit.
Mit 18 machte ich natürlich gleich alle notwendigen Führerscheine, um selber Auto und vor allem Motorrad fahren zu können. Meine einzige Zweiradfahrstunde bestand darin, eine betagte 125 ccm Hercules von der Garage des Fahrlehrers zum Prüfungsgelände zu fahren; dort drehte ich vor den Augen eines gelangweilten Prüfers ein paar Achten und vollzog eine gelungene Vollbremsung, und das war's. Der Lappen war mein. Nun musste ein Motorrad her.
Ein 50 Kilo-Sack Eierkohlen musste mich als Nutzlast ersetzen
Als Liebhaber deutscher Wertarbeit entschied ich mich für eine 20 Jahre alte Dürkopp MD 200, die ein algerischer Student für wohlfeile 200,- DM verkaufte. Ein wunderschönes Maschinchen mit zwei altmodischen Sätteln, das zwar nur 10 PS Leistung lieferte, mit dem ich aber trotzdem Mannis stärkere BMW locker hinter mir ließ, schließlich wurde er ja durch den soliden Seitenwagen ausgebremst. Zusätzlich lag im Steib nun immer ein 50 Kilo Sack Eierkohlen, der mich als Nutzlast ersetzen musste. Um einen Traktor zu überholen, musste Manni schon eine lange Gerade ohne jede Steigung vor sich haben. Und viel Zeit.
Was mich an der Dürkopp störte: sie besaß einen Zweitaktmotor und dem entsprechend einen hässlichen Klang. Ganz anders Mannis BMW mit ihrem Viertakter, bei der man im Leerlauf jeden Takt mitzählen konnte. „Ein Motorrad kann gar nicht viertaktig genug sein“ pflegte mein Freund zu sagen, und dem konnte ich nur beipflichten. Dennoch folgte der Dürkopp zunächst eine DKW RT 175, die ebenfalls einen Zweitaktmotor besaß und erst einige Jahre später hatte ich dann endlich selber eine BMW, bis ich Rücken bekam.
Wer sich mit alten Fahrzeugen abgibt, muss wissen, auf was er sich einlässt. Immerhin war keine der Maschinen, die ich damals fuhr, jünger als 20 Jahre, die BMW hatte sogar schon 30 Jahre auf dem Buckel. Mechanisch war eher selten etwas zu meckern, da in den 1950er Jahren recht solide gearbeitet wurde, und bis auf ein wenig Flugrost lag auch optisch wenig im Argen. Der eigentliche Knackpunkt lag in der Existenz eines marodierenden Tieres, das sich gerade bei Motorrädern, die als Alltagsfahrzeuge rund ums Jahr unterwegs waren, schon bald bemerkbar machte: der Kupferwurm. Den Genossen gibt es auch heute noch, insbesondere bei englischen Fahrzeugen. Aber das ist eine andere Geschichte
Ein marodierendes Tier namens Kupferwurm
Ähnlich der Loriot'schen Steinlaus ist der Kupferwurm selber nur sehr schwer mit bloßen Auge zu entdecken; dafür sind die Folgen seines unseligen Wirkens um so offensichtlicher. Noch relativ harmlos schlägt der Räuber zu, indem er eines Tages das Motorrad vor dem Haus gar nicht erst anspringen lässt (es sei denn, man hat seiner Freundin eine Ausfahrt ins Grüne versprochen und die wartet nun vergeblich am Treffpunkt). Deutlich dramatischer waren plötzliche Zündaussetzer unterwegs, also weit weg von daheim, vor allem, wenn sie sich bis zum Stillstand des Motors steigerten.
Hatte man da eine Freundin auf dem Soziussitz, die spätestens um 6 zum Abendbrot zu Hause sein musste, gab das nicht nur Zoff mit ihr, sondern auch mit ihrem Vater. Weitere gängige Streiche des Kupferwurms bestehen im Ausfall der Beleuchtung, des Bremslichts, der Hupe … eben von allem, was zum Komplex „Elektrik“ gehört. Der war zwar bei den alten Motorrädern überschaubar, aber wenn man gar keine Ahnung von Batterie, Zündanlage, Regler und Lichtmaschine hatte, war man verloren. Das unsystematische, hilflose Wackeln und Ziehen an einigen Kabeln hat in den allerseltensten Fällen zu einer befriedigenden Lösung geführt.
Spätestens, wenn man zum ersten Mal 50 km von zu Hause in der Abenddämmerung wegen eines plötzlich erloschenen Scheinwerfers zum Erliegen kann, stand eine Entscheidung an, und die konnte für einen seriösen Motorradfan nicht darin bestehen, das Fahren alter Schätzchen gänzlich aufzugeben. Also musste man sich zumindest rudimentär mit der Fahrzeugelektrik befassen. Denn nur dann war man im Ernstfall zumindest fähig, eine systematische Fehlersuche zu starten. Warum geht der Scheinwerfer aus? Ist es die Birne? Welche Kabel führen dort hin? Wo gibt es Schalter, die eventuell defekt sind? Wie prüfe ich, ob überhaupt Strom in die Lampe fließt? Wenn man mit etwas Werkzeug sowie ein paar Ersatzteilen unterwegs war, hatte man eine recht gute Chance, doch noch sein Ziel zu erreichen.
Die Lederjacke diente zur Aufbewahrung von Werkzeug, Ersatzteilen und Schmiermitteln
Mein Freund Manni war ein echter Experte, was die mobile Ausstattung mit Werkzeug und Teilen angeht. Ich erinnere mich gut daran, dass wir einmal Freunde besuchten. Manni hatte seine Lederjacke ausgezogen und neben sich auf den Boden gelegt; die Dame des Hauses wollte sie aufheben und an die Garderobe hängen. Ich werde nie ihr Gesicht vergessen, als sie mit einer Hand die Jacke man eben greifen wollte – sie bekam das Teil nämlich nicht hoch gehoben. Manni hatte in sämtlichen Taschen alles, was der Bastler halt so braucht, verstaut, und dadurch kam ein nettes Gewicht zusammen.
Natürlich war das Inventar seiner Jacke längst nicht alles; rechts und links der BMW hatte Manni zwei Bundeswehrmunitionskisten angeschraubt, die ebenfalls der Aufbewahrung von Werkzeug, Ersatzteilen, Schmiermitteln und jeder Menge Lappen dienten. Mannis größte Sorge war, auf dem Weg zum TÜV eine Panne zu haben, denn davor schraubte er die Kisten tunlichst ab, und dann hatte er für ein paar Stunden keinen Regler und keinen Lichtmaschinenanker dabei. Mehr als einmal habe ich den Nutzen dieser vielleicht etwas übertrieben scheinenden Notfallmaßnahmen miterlebt, so dass ich mir ebenfalls später solche Kisten montierte und damit im wörtlichen Sinne meist gut gefahren bin.
Wie aber machte man sich theoretisch schlau über das Treiben des Kupferwurms und das Beseitigen seiner Schäden? Ein geniales Buch half dabei. Es erschien im Jahr 1961, was schon insofern bemerkenswert ist, als zu dieser Zeit die Motorradproduktion in Deutschland nahezu zum Erliegen gekommen war. Gerade noch 5 Prozent der Stückzahl von 1954 wurde 1960 hergestellt. Inzwischen konnten sich immer mehr Leute ein Auto leisten, und da das Motorrad damals keineswegs ein Spaß- und Freizeitfahrzeug war, sondern mit allerlei Nachteilen gegenüber dem vierrädrigen Gefährt aufwartete, war die Nachfrage entsprechend gesunken. Dennoch erschien dieses Buch von fast 400 Seiten genau zu dieser Zeit, und in seinem Vorwort schreibt der Autor: „Als vernünftiger Mensch hätte ich ein Automobilbuch schreiben müssen, statt meine Arbeitszeit mit einem Buch über Motorradelektrik zu verplempern, wo mir doch jeder prophezeit, dass man davon höchstens noch ein paar hundert Exemplare verkaufen könne.“
Dass Carl Hertweck sein Buch „Der Kupferwurm“ dennoch auf den Markt bringen konnte, lag vor allem daran, dass er als Chefredakteur der Zeitschrift „Das Motorrad“ gute Karten beim Verlag hatte. Dennoch gab es vor der Veröffentlichung Probleme: „Der Kupferwurm musste diesen Titel schwer verteidigen“ schreibt Hertweck zu Beginn seines Vorworts. „Wenn es nach den seriösen Leuten gegangen wäre, dann hieße es „Großes Handbuch der Motorradelektrik“ oder so ähnlich. Aber Gott sei Dank sind Motorräder heute nicht mehr seriös.“
Bald verlor der Schädling einen großen Teil seines Bedrohungspotenzials
Natürlich besaß Manni ein Exemplar des Kupferwurms, und einige Zeit später auch ich, nachdem ich dank Manni Gelegenheit gehabt hatte, den Nutzwert des Buches schätzen zu lernen. Bis dahin gänzlich unbeleckt von naturwissenschaftlichem Verständnis, erwarb ich mir dank Hertwecks genialer Fähigkeit, auch etwas kompliziertere Sachverhalte zu erklären, ein solides elektrisches Grundwissen. Von da an waren Teile wie Batterie, Regler, Zündanlage und Lichtmaschine keine geheimnisvolle Zuladung mehr, sondern in ihrem Funktionieren und Zusammenspielen durchschaubar, also auch analysierbar und im Falle eines Kupferwurms systematisch untersuchbar.
Bald verlor der Schädling einen großen Teil seines Bedrohungspotenzials, denn man lernte durch Hertwecks Buch in der Theorie, wie simpel die Ursache so manches Teil- oder Ganzausfalls am Motorrad sein konnte und in der Praxis, also bei einer Panne, wie leicht man vieles beheben konnte, dem man zuvor hilflos ausgeliefert war. Hertwecks Sprache ist einfach und „ganz nahe am Volk“ - so wie seine Sätze konnten sich auch Gespräche zwischen humorvollen Bikern anhören. „Elektrik ist für das einfache Gemüter so unheimlich, weil man sie nicht sehen kann. Allenfalls riechen, dann ist es aber auch schon oft zu spät.“ „Bei Bosch wurde schon in vorgeschichtlicher Zeit, gleich als Noah aus dem Kasten war und die Menschen begannen, sich wieder auf dem Trockenen zu bewegen, der Zweikontaktregler verwendet.“ „Es gibt viele Lichtschalter und Zündschlüssel, für die der Begriff Tinnef viel zu vornehm ist.“
Carl Hertweck (dem – Skandal!! – nicht einmal ein Eintrag in der Wikipedia gewidmet ist) dürfte mit seinem Buch bis heute unzähligen Bikern im wörtlichen Sinne den A**** gerettet haben. Alleine die unzähligen Tipps zur Fehlersuche – welche nicht selten mit dem Entdecken profanster, also ganz leicht zu behebenden Ursachen erfolgreich endete – sind Gold wert. Selbst mit einer toten Lichtmaschine konnte man noch das rettende Ufer erreichen, man musste eben nur wissen, wie das geht. Bosch und Noris-Generatoren waren da sehr heikel und konnten leicht endgültig ins Jenseits befördert werden, DKW Lichtmaschinen schafften das hingegen ganz locker, es musste nur die Batterie noch genügend Saft für die Zündung liefern. Freund Manni hatte für alle Fälle stets eine Ersatzlichtmaschine dabei und natürlich einen Regler. Und einen Kondensator.
Was die Bibel für Christen ist der Kupferwurm fürs Motorrad
Nahezu alles, was man im Kupferwurm an Theorie und Praxis findet, gilt auch für Autos; dem Phänomen Elektrik ist es ziemlich egal, ob es auf zwei, drei oder vier Rädern unterwegs ist. So konnte ich, mit etwas theoretischem Wissen aus meiner Bikerzeit (also vor dem Rücken), an meinem englischen Oldie leicht herausfinden, was da im Kabelbaum und vor allem den Anschlussklemmen im Argen lag. Gut, der grundsätzliche Fehler, die elektrische Ausstattung durch die Firma Lucas (Motto: "Get home before dark.") ist systembedingt und nicht gänzlich zu beseitigen, aber die Auswirkungen von elektrischen Widerständen in Kabeln und Anschlüssen ist nicht zu unterschätzen, ob im KFZ, ob im Mopped.
Der Kupferwurm ist ein absoluter Klassiker in der Fahrzeugliteratur, und Jahre lang war das Buch später entweder gar nicht zu finden oder wurde zu immens hohen Preisen antiquarisch gehandelt. Für die Fahrer moderner Maschinen ist der allergrößte Teil heute so uninteressant wie eine Anleitung zum Bau einer Arche. Doch jeder, der sich dem Erwerb, Fahren und Erhalten alter Töffs widmet, kommt ohne Hertwecks Buch nicht von der Stelle. Der Motorbuchverlag hat 2005 einen Reprint veröffentlicht, der zudem auch noch Hertwecks zweiten Klassiker „Besser machen: Arbeiten an Motorrädern“ enthält. Der dicke Band kostet knapp 40 Euro, und das ist er Seite für Seite wert. Wie schreibt ein Leser in seiner Rezension bei Amazon? „Was die Bibel für Christen ist Hertweck fürs Motorrad.“
Die Suche nach Kupferwürmern an alten Fahrzeugen hat mich sicher einige Jahre meines Lebens gekostet. Ohne Carl Hertwecks Buch wären es wohl Jahrzehnte.
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