Wolfram Weimer / 26.04.2016 / 13:00 / Foto: Ruslan Krivobok / 6 / Seite ausdrucken

Aufgeblasene Pausbacke gegen einen sinkenden Dampfer

Deutschlands Volksparteien verhalten sich derzeit wie die Musikkapelle auf der Titanic. Ihr Schiff ist schwer Leck geschlagen, man sinkt und spielt doch die alten Lieder munter weiter. Die Denkzettelwahl vom März war der Eisberg der politischen Volksparteien-Kreuzfahrt. Die SPD ist in zwei Flächenstaaten hinter die AfD zurückgefallen, der Volksparteiencharakter schwindet, und in bundesweiten Umfragen rutschen die Sozialdemokraten nun sogar unter die demütigende Marke von 20 Prozent ab. Jede normale Institution würde sich nach Rettungsbooten umsehen, es würde der Kapitän infrage gestellt, man würde den Kurs dringend wechseln und ein entschiedenes Wendemanöver versuchen. Die SPD hingegen hält blindtapsig Kurs unter die Wasserlinie.

Besonders zielstrebig versenkt sie sich derzeit in Berlin. Am 18. September 2016 wählen die Berliner das Abgeordnetenhaus, es wird die nächste Landtagswahl mit bundesweiter Signalwirkung. Hauptstadt ist schließlich Hauptstadt. Die Umfragen sagen der SPD bereits eine schwere Schlappe voraus, sie käme derzeit nur noch auf einen Stimmen-Anteil von 23 Prozent, das ist der schlechteste Wert, den Infratest-dimap für die Berliner SPD seit einem Jahrzehnt gemessen hat. Ein Stadtbezirk nach dem anderen fällt stimmungsseitig der AfD entgegen.

Selbstzerfleischung statt kämpferischem Mut

Anstatt nun einen kämpferischen Wahlkampf gegen die politische Gezeitenwende zu eröffnen, startet die Berliner SPD lieber einen internen Machtkampf. Michael Müller wagt als Regierender Bürgermeister eine Attacke auf seinen eigenen Parteivorsitzenden Jan Stöß und will diesen noch vor der Wahl aus dem Amt jagen und selber Vorsitzender werden. Persönliche Machtspiele prägen nun das Bild einer zerstrittenen Berliner SPD. Dabei ist das öffentliche Bild des Regierenden ohnedies angekratzt, weil das Management der Flüchtlingskrise in Berlin einen eher miserablen Eindruck macht. Der nun offen ausgetragene Machtkampf ist neues Wasser auf die Mühlen der AfD.

Die Selbstzerstörung der SPD in Berlin könnte fatale Folgen haben. Sollte nämlich die Sozialdemokratie auch in ihrer Hochburg Berlin den Volksparteienstatus verlieren und auch in der Hauptstadt der Republik abrutschen, dann wäre die symbolische Wirkung dieser Niederlage desaströs. Bis hin zur Titelseite der New York Times würde der historische Aufstieg der AfD registriert. Zumal schon jetzt die Gefahr besteht, dass die SPD auch in Mecklenburg-Vorpommern (wo ebenfalls im September gewählt wird) von der AfD überholt wird. Dort könnte die AfD – wenn das Momentum der Rechtspopulisten weiter trägt – sogar stärkste Partei überhaupt werden. Umso verblüffender ist die Nicht-Reaktion von SPD und CDU auf diese historische Herausforderung.

Die Bundes-SPD hat vergangene Woche eine besonders traurige Demonstration der Selbsthingabe in den Niedergang abgegeben, als Sigmar Gabriel vor seiner ratlos-verzweifelten Fraktion erklärte, er würde ja zurücktreten, wenn das irgendwie helfe. Doch anstatt offene Fehleranalyse zu betreiben und in das eigene Wählermilieu einmal offen herein zu horchen, die massenhaften Ängste dort endlich offen zu adressieren, entlarvt erst einmal der Böhmermann-Skandal weitere Irrungen der Berliner Migrationspolitik bis hin zur Erpressbarkeit durch einen türkischen Despoten. Union und SPD mühen sich zwar mit einem neuen Integrationsgesetz irgendwie wieder Haltung zu bekommen. Doch in Anbetracht der grundlegenden Erschütterung der deutschen Gesellschaft wirkt diese Initiative als halbherziger Versuch des Nachjustieren. Ein SPD-Vorsitzender vom Schlage Gerhard Schröders oder Helmut Schmidts würde die Untergangsstimmung längst gewittert und ihr massiv gegengesteuert haben. Das Integrationsgesetz taugt dazu nicht. Es wirkt wie das Aufblasen von Pausbacken bei sinkendem Dampfer.

Die Volksparteienfunktion fahrlässig verspielt

Die Republik ist in tiefer Verunsicherung. Wenn Meldungen die Runde machen, dass die islamistischen Terroristen inzwischen sogar Atomkraftwerke ins Visier nehmen, dann erwartet die Bevölkerung vor allem eines: demonstrativen Schutz und Sicherheit. Die Migrationskrise, die Terrorgefahren durch den Islamismus und die Ängste um die Identität der Gesellschaft sind – wenn die Volksparteien das weiterhin unterschätzen – gefährlich für die innere Stabilität und Legitimation unserer Republik. Die Jahrzehnte lang geltende Architektur der demokratischen Politik gerät ins Wanken. Die Volksparteien erleben einen massiven Wassereinbruch, der irgendwann nicht mehr reversibel ist. Vielleicht wird die nächste Generation von CDU- und SPD-Politikern einmal sagen, dass man 2015/2016 die strategische Volksparteienfunktion fahrlässig verspielt habe. Durch eine falsche Migrationspolitik, durch ein Ignorieren massenhafter Sorgen in der Bevölkerung, durch eine dumpfe politische Korrektheit, durch eine Verkrustung der Machtapparate und auch durch unsägliche Machtkämpfe in den eigenen Parteien.

Dieser Artikel erschien zuerst auf handelsblatt.com und The Europen hier

Foto: Ruslan Krivobok/RIA Novosti CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Martin Wessner / 26.04.2016

Das Problem ist, dass sich (nicht nur) die SPD in den Denkstrukturen des marxistischen Materialismus!!! labyrinthmäßig verfangen hat. Die Sozialdemokratisierung des ganzen Landes frisst sozusagen ihre Kinder(und Väter). Die SPD glaubt offenbar wirklich, dass alle Probleme der Welt nur darauf zurückzuführen sind, dass es eine ungleiche Verteilung von materiallen Ressourcen zwischen “Oben” und “Unten”, also beispielsweise Bankern und Busfahrern und Kapitaleignern und Krankenschwestern gibt und das sie(Die Partei) quasi die historische “Vorsehung” dazu berufen hat, hier schicksalsträchtig Abhilfe zu leisten. Das das Wesen des Menschen mehr ausmacht als der Drang nach schnödem Mammon, dass das Herz und der Verstand ihrer Wähler von mehr berührt und beeinflusst wird und dass ihr Klientel auch noch andere, sprich, imaterielle kulturelle, spirituelle und soziale Bedürfnisse und Interessen, -ausser billig Brot und ein Dach über den Kopf- hat, das checken die Schlichtdenker in der Parteizentrale in der geschichtsträchtigen Wilhelmstrasse in Berlin offenbar nicht. Viele Bürger treibt offensichtlich mehr die Sorge rum, dass sie beispielsweise in ihrem Stadtteil in Dortmund oder Pforzheim abends einschlafen und morgens in Islamabad oder Bagdad wieder aufwachen, weil der Ruf des Muezzin sie weckt und weniger die Angst, dass Multimilliardäre möglicherweise zu niedrige Steuern zahlen. In vielen Belangen ist die SPD mental leider noch in den 70ziger Jahren hängen geblieben und genau das fällt ihnen nun voll auf die Füsse. Zudem erwecken die Sozis in der Öffentlichkeit den fatalen Eindruck, dass sie sich von der Volkspartei der (Fach-)Arbeiter mit Gewerkschaftsausweis in moderner Zeit immer mehr zu einer elitären Minderheiteninteressensvertretung für Migranten, Flüchtlinge, Feminist_Innen und Staatsdiener mit Gesellschaftswissenschaftstudiumhintergrund gewandelt haben. In Anbetracht dessen wundere ich mich, dass die SPD überhaupt noch so eine vergleichweise hohe Zustimmung erhält und nicht längst als verhinderter Klon der Grünen prozentual viel, viel weiter abgestürzt ist.

Rolf Permeier / 26.04.2016

Wer soll in Berlin noch SPD wählen? Die hippe Klientel ist grün, die dogmatische links, die sich modern (also pseudo-)konservativ gebenden wählen CDU, oder vielleicht sogar die Presspahnliberalen. Der Rest macht sein Kreuz gar nicht, oder bei der AfD. Da bleibt nur noch die eingebürgerte Islamfront übrig und das wären um die 200k Stimmen, bzw. 10% fürs Abgeordnetenhaus. Was Mecklenburg-Vorpommern betrifft, nun da denke ich, werden wir einen triumphalen TV-Abend erleben voller tiefempfundener Schockemotionen. Auch wenn ich sehr weit weg wohne werde ich mir das definitiv ansehen, wie sich die AfD dort 30%+ abholt. Ob die SPD überhaupt in den Landtag kommt bezweifle ich ernsthaft. Das Land hat - noch - einfach zu wenige Moslems in seinen Reihen.

Rainer Brandl / 26.04.2016

Sehr geehrter Herr Weimer, Sie schreiben: „Die Republik ist in tiefer Verunsicherung.“ Wer ist die Republik? Ich meine es sind ganz einfache Ereignisse, die verunsichern. Der MDR ist in der Lage eine Frau ins Gefängnis zu stecken – aber wenn zwei Ausländer eine Radfahrerin tot fahren gibt es Bewährung. Das ist keine Verunsicherung mehr – das ist kalte Wut. Die SPD kann da gar nichts machen; die hat mit ihrer Briefkastenfirma in Hongkong zu tun. Grüße Rainer Brandl

Gerhard Sponsel Lemvig / 26.04.2016

150 Jahre SPD !  “Man kann im Alter entweder weise werden oder verblöden. Die häufigste Form der Altersblödheit besteht darin, dass man sich für weise hält.” Friedrichs Torbergs Aussage passt so treffend auf die SPD und auch auf ihen trolligen Vorsitzenden.

Lambert Matthes / 26.04.2016

Sehr geehrter Herr Weimer, Sie meinen, der SPD geht es schlecht und den Rechtspopulisten (jawohl, den korrekten Wortschatz haben Sie zufriedenstellend verinnerlicht) gut. Mir macht das keine Sorgen. Andererseits stellt die ehem.  deutsche Arbeiterpartei z.Z. die Bundeskanzlerin. Also, was wollen Sie? Was will man mehr? Sie schreiben weiter: “..., dann erwartet die Bevölkerung vor allem eines: demonstrativen Schutz und Sicherheit.” Ja, da haben Sie Recht. Auch ich bin “Bevölkerung” und ich erwarte tatsächlich “Schutz und Sicherheit”, wie das vor einigen wenigen Jahren noch mehr oder weniger (zunehmend weniger) der Fall war. Um aber die “Bevölkerung” zu schützen, bräuchte unser Staat gesicherte Grenzen. Und das ist ein Ding der Unmöglichkeit ! Tausende Kilometer, Strand, Berge, diverse Flüsse, ab und zu langweiliges Flachland, die einfach nicht geschützt werden können, Punkt. Haben Sie das noch nicht verinnerlicht oder gar nicht gewusst? Fragen Sie doch die Bundeskanzlerin!

Wieland Schmied / 26.04.2016

Glaubt irgend jemand ernstlich, daß dieser Abgesang auf die SPD - als schon lange nicht mehr praktizierende Volkspartei, weil ohne Bewußtsein für das Volk, auch nur einen Leser des ‘Handelsblattes’ irgendwie berührt, geschweige denn negativ anrührt? Möglicherweise noch dahingehend, daß die Spießgesellen und - innen der Titanic-Parteien in einigen Jahren nichts mehr für ihn und ‘deren sich zu Eigen gemachte Republik’ tun können. Otto Normalbürger hingegen wird’s freuen, wenn der angeschlagene Dampfer - vielleicht noch rechtzeitig unter neuer Mannschaft - wieder Fahrt auf richtigem Kurs aufnimmt und ihn in den vertrauten Heimathafen bringt.

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