Chaim Noll / 14.03.2016 / 15:00 / 0 / Seite ausdrucken

Neue Serie: Die klassischen Muster der Judenverachtung (1)

Das fast zwei Jahrtausende währende Zerwürfnis zwischen Christen und Juden hinterlässt Fragen, die wir erst heute öffentlich stellen können. Wie ist dieser für Europas Entwicklung folgenschwere Bruch zu erklären, obwohl Jesus Jude und das Christentum in seinem Ursprung eine jüdische Bewegung war? Ist christlicher Antijudaismus zunächst theologisch motiviert oder politisch-sozial? Ist christliche Judenfeindschaft im christlichen Schrifttum angelegt? Oder eher eine Begleiterscheinung der weltlichen Macht, in der das Christentum im Lauf der Jahrhunderte aufging und die andere als religiöse Interessen Überhand gewinnen ließ?

Aus der Geschichte wissen wir: je fragwürdiger die Handlungen von Menschen, umso mehr brauchen sie Legitimierung, Jurisdiktion, Absicherung dessen, was man ohnehin tun wollte, durch ein Gefühl von Rechtlichkeit. Ein solches Selbstgefühl ist unerlässlich, um die für das Handeln notwendigen Energien – selbst wenn es Energien der Zerstörung sind – über eine bestimmte Zeit aufrecht zu erhalten. Ein frühes, aus der Literatur bekanntes Beispiel ist der von Homer überlieferte Kriegszug der Griechen gegen Troja. Wären die Helden Homers zu dem langen, zähen Kampf um die Stadt, zu ihrer Zerstörung und Massentötung ihrer Einwohner motiviert gewesen, wenn sie sich eingestanden hätten, dass es sich bei ihrer Unternehmung schlicht und einfach um einen Raubzug handelte?

Zu solchen Aktionen sind Vorwände vonnöten, Vorwände moralischer Art, in diesem Fall eine Geschichte von Ehebruch, Raub einer Fürstin, Eingriff in die geheiligten Rechte des Gatten – mit Sicherheit wirkungsvoll in einer Gesellschaft, die sich streng patriarchalisch orientierte und in der das Erotische immer im Mittelpunkt stand. Schon dieses alte Beispiel zeigt den doppelten Boden, dessen solche Vorwände bedürfen: der sichtbare ist ein Rechtsvorwand, dahinter verbirgt sich etwas Emotionales, Sinnliches, oft Mystisches, das der ganzen Sache die nötige Schubkraft gibt.

Der Gegner als Gegenbild der eigenen Wunschidentität

Christen fanden andere Vorwände für ihre gewalttätigen Aktionen, entsprechend ihren eigenen erklärten Idealen. Gewaltanwendung war unvermeidlich – wenn auch der Lehre Jesu zuwider –, nachdem das Christentum im römischen Imperium zu weltlicher Macht gelangt war und diese Macht behaupten wollte. Da Christen Eigenschaften wie Tugend, Reinheit, Abgewandtheit vom Diesseits als Ideale gelten, wurden folglich ihre Gegner als nicht rein, nicht tugendhaft, dem Diesseits verhaftet, dem irdischen Staub verfallen dargestellt – so auch die Juden. Zunächst ein allgemeines Muster: Der Gegner wird als Gegenbild der eigenen Wunschidentität aufgebaut. Profanität, Drang nach irdischen Gütern, schlicht ausgedrückt Geldgier – früh symbolisiert durch die dreißig Silberlinge, für die Judas Iskariot seinen Rabbi verraten haben soll – wurden in diesem Sinne zu einem jüdischen Wesenszug erklärt. Und vieles andere. Die Liste der Beschuldigungen christlicher Gesellschaften gegen Juden ist so lang wie absurd. Es gibt so gut wie keine Schandtat, kein Verbrechen, kein Laster, das christliche Gesellschaften Juden nicht nachgesagt hätten.

Vorwand für die früheste christliche Anklage gegen Juden ist Jesu Lebenslauf selbst: als Jude geboren, als Heiler, Prediger, Rabbi und Schriftausleger im Volk beliebt, aber am Ende getötet – angeblich auf Betreiben „der Juden“. Der neuralgische Punkt im Verhältnis der Christen zu den Juden ist seit jeher, seit frühestem christlichen Selbstgefühl, die Nicht-Anerkennung der Person Jesus als Messias, griechisch Chrestos, durch die jüdische Mehrheit. Hieran entzündete sich die Rhetorik einiger Stimmen im Neuen Testament, Juden zumeist. Später, durch die folgenden Jahrhunderte, von christlichen Autoren und Kirchenvätern. Darüber wurde vergessen, dass Jesus’ erste, früheste Anhängerschaft durchweg aus Juden bestand, und dass es eben gerade Juden waren, die in ihm den Messias oder Chrestos sahen. Es handelt sich zunächst um einen innerjüdischen Streit, ausgelöst durch den im Volk beliebten, von der Tempeldynastie beargwöhnten Schriftgelehrten und Wunderheiler Jesus, und die entscheidende Streitfrage war, ob man in ihm mehr sah als einen Schriftgelehrten und Heiler, ob man in ihm den von Gott Gesalbten sah, eben den Chrestos oder Messias.

Beleidigung der Majestät des Kaisers

Das Jesus zur Last gelegte Verbrechen war crimen laesae maiestatis, Beleidigung der Majestät des Kaisers. Es wurde von dem zu Jesu Lebzeiten herrschenden Kaiser Tiberius eingeführt und – soweit bekannt – auf das strikteste angewandt. Das übliche Strafmaß war der Tod. Die Rechtslage war eindeutig: zum Tode verurteilen konnte in der römischen Provinz Judäa nur der römische Prokurator, das Urteil vollstrecken nur die römische Behörde und begnadigen nur der römische Kaiser. Die Darstellung des Rechtsstreits in den Evangelien erweckt den Eindruck, in der Provinz Judäa sei eine Amnestie aus Anlass des Pesach-Festes üblich gewesen, die Jesus hätte retten können, ihm aber von den Juden verweigert wurde. Doch eine solche Amnestie ist historisch nicht belegt und in keiner anderen Quelle erwähnt. Hinzu kommen tendenziöse Übersetzungen auslegbarer Stellen im Neuen Testament (Matthäus 27, 25, Titus 1,10-11 u.a.), die der Entstellung den Anschein des Unvermeidlichen gaben. „Sagen wir es direkt“, schrieb der christliche Theologe Carsten Peter Thiede, „Übersetzungen und Ausleger, die sich darauf stützten, haben hier Schuld auf sich geladen.“ Weitere Schuldzuweisung an Juden liegt im Text des Neuen Testaments nicht vor: es ist allemal zu wenig, um eine Verurteilung von Juden, noch dazu ihres ganzen Volkes zu indizieren.

Dennoch wurde Jahrhunderte lang von christlichen Kanzeln verkündet: „Die Juden haben unseren Herrn Jesus Christus umgebracht.“ Frühes kirchliches Emanzipationsbemühen förderte die Legende von der jüdischen Schuld. In der Passa-Homilie des Bischofs Melito von Sardes, geschrieben um 150 christlicher Zeit, werden „die Juden“ zum ersten Mal offen als Christusmörder bezeichnet. Der einflussreiche christlich-römische Philosoph Laktantius folgte der Unwahrheit zwei Jahrhunderte später in seinem Standardwerk Divinae Institutiones, wodurch sie ins lateinische Schrifttum einging. Ambrosius von Mailand im vierten Jahrhundert, die Kirchenväter Johannes Chrysostomos (Homiliae adversus Iudaeos) und Augustinus (Tractatus adversus Iudaeos) kennzeichnen weitere Etappen der Kirche auf dem abschüssigen Weg in Judenhass und Verfolgung des Volkes Jesu. Nachdem sich die Nachrede einmal eingebürgert hatte, erwuchsen daraus auch die Behauptungen von Ritualmord, Kinderschlachten und Brunnenvergiften, schließlich noch, um die Wende zum 20.Jahrhundert, in einer Zeit, die sich für wissenschaftlich aufgeklärt und fortschrittlich hielt, von einem jüdischen geheimen Rat, der sich bei Nacht und Nebel auf dem Judenfriedhof in Prag am Grabe des Shimeon bar Jehuda versammle, um Pläne zur Welteroberung und Unterjochung der Menschheit zu schmieden. Diese jüdische Weltverschwörung hege unter anderem den Plan, alle Arbeiter zum Alkoholismus zu verführen und durch Erhöhung der Lebensmittelpreise und Verbreitung ansteckender Krankheiten chaotische Zustände, am Ende den Zusammenbruch der christlichen Gesellschaften herbei zu führen.

"Die Protokolle der Weisen von Zion“ als Massenhysterie

An dem Fall, der unter dem Namen „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in die Geschichte christlich-abendländischer Hysterie eingegangen ist, muss die Leichtgläubigkeit verwundern, mit der Millionen Menschen, darunter gekrönte Häupter, Kleriker, Gelehrte und höchste Regierungsbeamte den Betrug geglaubt haben. Oder besser gesagt: Sie müsste verwundern, hätten wir nicht seither noch drastischere Beispiele von Massenhysterie erlebt. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ wären nichts als lächerlich, enthielten sie nicht den Keim zur antisemitischen Paranoia des zwanzigsten Jahrhunderts, die schließlich zu Hitlers Vernichtungslagern und Stalins Judenverfolgungen führte. Obwohl Historiker versucht haben, den Ursprung der „Protokolle“ zu ermitteln, ist das Dunkel um die Herkunft der Fabrikation nie ganz erhellt worden. „Sicher scheint nur zu sein“, schreibt Walter Laqueur, „dass die russische politische Polizei bei der Abfassung die Hand im Spiele hatte.“ Maurice Jolys Roman „Dialogues aux enfers entre Machiavel et Montesquieu“ von 1865 diente als Anregung, obwohl das gegen Napoleon III. gerichtete Buch keine antisemitische Tendenz enthält, auch andere Romane wie „Le Juif errant“ des damals erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellers Eugene Sue. Der eklektische Charakter des Textes ist auf den ersten Blick ersichtlich. Ein so fadenscheiniges Elaborat konnte nur auf der Basis bereits bestehender, tief eingewurzelter Vorurteile erfolgreich sein.

Nächste Folge: Christlicher Judenhass ist kein originäres Phänomen.

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