Rainer Grell / 29.06.2016 / 10:00 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 3 / Seite ausdrucken

Hilfe, schon wieder ein Experte

Wir sind von Experten umzingelt. Zumindest in den Medien. Egal, um welches Thema es sich handelt. Aus irgendeiner Ecke wird ein Experte, und ja, es handelt sich meist um Männer, hervorgezerrt“ schreibt ein „dauni“ im Internet. Man staunt, für was es alles Experten gibt. Kürzlich war in einem Artikel von einem „Fachmann für Massenvernichtungswaffen“ die Rede, wobei offen blieb, ob er solche herstellen oder bedienen kann oder ob er sich in dieser Materie lediglich gut auskennt. Ein Terrorismus-Experte ist jedenfalls keiner, der besonders Terrorakte verüben kann, sondern jemand, der Bescheid weiß, wer das tut und warum. Der zurzeit „angesagteste“ Fachmann ist wohl der „Social Media Experte“.

„Rate dreimal hintereinander richtig, und du giltst als Experte“ frotzelt der Entdecker des Peter-Prinzips (“The Peter Principle“).Ich selbst wurde einmal – allerdings ohne Namensnennung – als Fachmann für organisierte Kriminalität bezeichnet und dies von einem Spiegel-Journalisten, bloß weil ich als Stellvertreter des Landeskriminaldirektors eine (wachsweiche) Auskunft auf seine Frage gegeben hatte, welcher Umsatz wohl jährlich im Rotlichtmilieu gemacht wird.

Ein Fachmann, habe ich mal irgendwo gelesen, ist jemand, der von immer weniger immer mehr weiß. Diese Erkenntnis steckt vermutlich auch hinter dem Begriff „Fachidiot“. Es ist hier wie beim manisch-depressiven Irresein (politisch korrekt „bipolare Störung“): Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Einerseits werden die Experten umschwärmt (weil man ohne sie nicht klar kommt), andererseits werden sie verachtet und bespöttelt, weil sie nicht die Welt, sondern nur einen winzigen Ausschnitt davon erklären können. Ivan Illich (ein österreichisch-amerikanischer Philosoph und Priester, gestorben 2002) und andere sprechen in einem Buch sogar von der „Entmündigung durch Experten“.

An sich ist jeder ein Experte – viele wissen es nur nicht

Dabei ist an sich jeder ein Experte – viele wissen es nur nicht. Deshalb der Aufruf: „Haben Sie bereits herausgefunden, auf welchem Gebiet Sie 95 Prozent aller Menschen überlegen sind? Wenn ja, haben Sie eine sehr gute Chance, sich als Experte im Internet zu etablieren und viel Geld zu verdienen. Wenn nein, dann lesen sie diesen Beitrag. Egal in welchem Geschäft, in welcher Branche oder in welcher Nische Sie zu Hause sind… Sie sind bereits ein Experte!“ Im Fußball ist zwar jeder Mann per se Experte. Den Fernsehsendern genügt das aber nicht, weshalb jeder Sender noch einen Spezial-Fußballexperten beschäftigt.

Obwohl es überall von Experten jeder Art wimmelt ist zum Beispiel ein Raucher nicht automatisch Experte für Zigaretten oder Zigarren oder ein Alkoholiker für Alkohol. Da muss schon ein bisschen mehr dazu kommen als der reine Gebrauch oder Missbrauch.

Ein Rätsel gibt mir der „Zukunftsexperte“ auf, weil ich außer dem lieben Gott niemanden kenne (?), der etwas über die Zukunft weiß, außer dass sie ungewiss ist. Da ist zum Beispiel der Zukunftsexperte Prof. Dr. Michio Kaku. Switzerland Global Enterprise, 1927 unter dem Namen «Office Suisse d'Expansion Commerciale», kurz Osec, als nichtgewinnorientierter Verein in Lausanne gegründet, der Schweizer und Liechtensteiner KMU bei ihren internationalen Geschäftsvorhaben informiert, berät und begleitet, schreibt über Kaku, dass dieser „sich international als wichtiger Zukunftsexperte etablieren“ konnte. „Sein neustes Buch ‚Physics of the Future’ gibt einen authentischen Blick in die Welt der Zukunft“.

 "Wenn ich die Folgen geahnt hätte, wäre ich Uhrmacher geworden"

Nun ja, sicher kann man sich Gedanken über die Zukunft machen und diese auch öffentlich äußern, wenn einem danach ist. Aber wird man dadurch zum Zukunftsexperten? Gibt es so was überhaupt? Kann es das überhaupt geben? Der große Albert Einstein hat einmal gesagt: „Wenn ich die Folgen geahnt hätte, wäre ich Uhrmacher geworden.“ Und von Joachim Ringelnatz stammt die Erkenntnis: „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“

Apropos Uhrmacher: Der Brite Richard Dawkins, Biologe und bekennender Atheist, hat sich weniger mit der Zukunft als mit der Vergangenheit befasst und seine Erkenntnisse unter anderem in einem Buch mit dem Titel „Der blinde Uhrmacher“ auch interessierten Laien zugänglich gemacht. Er kommt darin zum Ergebnis, „dass das Universum nicht durch Design entstanden ist“ (Klappentext). Sein Landsmann, der Europäer Sir Winston Churchill, hat die Brücke von der Vergangenheit zur Zukunft geschlagen, indem er erkannte: "The farther backward you can look, the farther forward you can see." Vielleicht können die Fachleute für Brexit, Europa, Wirtschaft und Finanzen und was weiß ich noch alles ja Lehren aus dieser Erkenntnis ziehen. 

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Carl Meinen / 29.06.2016

Einspruch, lieber Herr Grell, Ihre Einbindung von Michio Kaku in ein fragwürdiges Zitat zu einem seiner Bücher würdigt in keiner Weise seinen Rang als Wissenschaftler (theoretischer Physiker/Fachgebiet Stringtheorie) und seine Meriten als populärwissenschaftlicher Autor. Er ist kein „Zukunftsexperte“; er entwirft auf Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und Forschungsvorhaben Projektionen möglicher zukünftiger Anwendungen. Für seinen Klassiker „Zukunftsvisionen. Wie Wissenschaft und Technik des 21. Jahrhunderts unser Leben revolutionieren“ (1997), hat Michio Kaku über 100 Naturwissenschaftler zu ihren aktuellen Projekten in unterschiedlichen Bereichen der Physik, Chemie und Biologie befragt (alles Hochkaräter in den Top-Zentren der amerikanischen Naturwissenschaft). Daraus ist ein lesenswertes Buch für interessierte Laien entstanden, das sich mit den absehbaren (und wahrscheinlich revolutionären) Trends in der Computertechnologie, der biomolekularen Wissensschaft und der Quantenphysik beschäftigt. Vielleicht lesen Sie ja gerade auf Ihren Tablett diesen Kommentar; dass es dieses geben würde war für Michio Kaku schon 1997 klar – unter dem Stichwort „Sensorik/Schichtfolien“. Der nächste Schritt ist übrigens der flächige Computer, eingelassen in die Schreibtischoberfläche. Das erste Kapitel „Die Choreographie von Materie, Leben und Intelligenz“ leitet Michio Kaku mit zwei Zitaten ein; das zweite lautet: „Voraussagen sind sehr schwierig, vor allem wenn sie von der Zukunft handeln“ Yogi Berra  

Hans-Peter Hammer / 29.06.2016

Zukunftsexperte/-forscher! In den Jahren 1973/1974 bekam ich zwei Bücher geschenkt die sich mit der Entwicklung bis zum Jahre 2000 beschäftigten! Es waren durchweg ernstzunehmende Menschen, Wissenschaftler gar, die da darstellten wie wir im Jahr 2000 leben würden. Bis auf die Mikrowelle in jeder Küche hat sich nichts bewahrheitet! Sie sahen den Personalcomputer nicht voraus, das Internet und auch das Handy nicht, weder GPS, noch Satellitenfernsehen oder Navi. Kurz, sie lagen so sehr daneben wie man nur liegen kann! Soviel zur “Kompetenz” von “Zukunftsexperten”!

Ulrich Knoche / 29.06.2016

Am 26.04.16 wurde auf ntv eine Sendung zum Tschernobiljubiläum ausgestrahlt.Hier trat ein Atomexperten namensThomas Breuer auf. Meine mehrfachen Anfragen an ntv welche Befähigung und Berechtigung Herr B. Zum Tragen des “Experten” hat,wurden mir von ntv leider nicht beantwortet.Das dazu!!

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