Peter Grimm / 30.06.2016 / 06:15 / Foto: Simon Q / 5 / Seite ausdrucken

Versuchen wir es doch mal mit „konstruktivem Journalismus“

Alle Akteure scheinen derzeit ihre Ratlosigkeit überspielen zu wollen, die angesichts der Frage herrscht, wie man nun das Ausscheiden eines wichtigen Landes, eines Nettozahlers aus der EU vollzieht. Ihre wichtigste Aufgabe scheinen die EU-Institutionen angesichts der Brexit-Entscheidung der britischen Wähler darin zu sehen, mögliche Nachahmer abzuschrecken. Aber selbst dafür fehlt das richtige Instrumentarium. Die Kanzlerin mahnt zur Gelassenheit, die Unpopulären warnen vor den Populisten und auch die Überlegungen,  ob und wie sich die Abstimmung bis zu einem wunschgemäßen Ergebnis wiederholen ließe, reißen nicht ab.

Letztere werden ergänzt durch die Feststellung, dass das Referendum ja gar nicht zwangsläufig in einen Austrittsantrag münden müsse, denn den könne nur das Parlament beschließen und das ist an das Volksvotum ja nicht gebunden. Vielleicht könnte die EU aber auch noch ein paar neue kleine Zugeständnisse anbieten und dann geht’s in die nächste Runde der Abstimmungen. Alles bliebe beim Alten. Ganz wie 2008 beim Referendum in Irland zum Lissabon-Vertrag, dem EU-Grundlagenvertrag. Als die Iren den Vertrag ablehnten wurden sie nach ein paar Zusicherungen aus Brüssel noch einmal an die Urnen gerufen, bis es endlich das wunschgemäße Ergebnis gab. Warum sollte das nicht auch acht Jahre später funktionieren?

Man kann viel spekulieren in diesen Tagen und an jeder Ecke findet sich ein Politikerzitat, mit dem man beinahe jedwede Spekulation garnieren kann. Wollen wir das? Nein, wir wollen doch Klarheit!

Alle klaren Worte riechen streng nach Angst

Wir könnten nun berechtigterweise in wohlgesetzten Worten darüber nörgeln, dass alle jetzt von den jeweils anderen endlich „Klarheit“ wünschen und gleichzeitig wolkige Interpretationen liefern, was die Briten mit ihrer schon recht klaren Entscheidung denn nun eigentlich wollten. All die scheinbar klaren Worte, das man ich nun um die notwendige größere Bürgernähe und die Reformen des Apparats kümmern werde, riechen recht streng nach der Angst, dass solchen Worten vielleicht irgendwann auch ein paar kleine Taten folgen müssten.

Sie könnten jetzt argwöhnen, dass sich nun wieder ein EU-kritischer Autor gerade für das kultivierte Herunterbeten seines recherchierten Klagekatalogs warmschreibt. Das wäre zwar durchaus angemessen, aber es ist inzwischen so oft angemessen gewesen, dass es zuweilen irgendwie langweilig ist. Vielleicht sollte man es doch auch in reiferen Jahren einmal mit Zeitgeist-Journalismus versuchen.

Angesagt ist ja gerade der „konstruktive Journalismus“, der Kritik an herrschenden Zuständen allein nicht gelten lässt, sondern den geplagten Verantwortungsträgern auch Vorschläge unterbreitet. Vorreiter dieser positiven journalistischen Zukunft ist „Perspective Daily“. Das Motto der Kollegen: „Zeigen, wie die Welt heute ist und morgen sein könnte.“ Wenn ich mich daran halten möchte, worauf muss ich achten? „Wir schreiben Artikel mit Blick nach vorn. Wir sprechen nicht nur über Probleme, sondern fragen täglich: Wie kann es besser werden? Unsere Beiträge vermitteln Zusammenhänge und diskutieren Lösungen.“

Versuchen wirs mal mit "konstruktivem Journalismus"

Na dann versuchen wir es doch mal: Also Thema: Wie kann die EU kurzfristig zeigen, dass sie sich zu einer Union der Europäer entwickeln will. Wie kann die EU die demokratischen Mitspracherechte der Bürger stärken und gleichzeitig garantieren, dass sie einzelnen Ländern nichts aufzwingt, was die dortigen Bürger nicht wollen? Wie kann sie das so glaubhaft tun, dass vielleicht sogar wieder mehr Briten Lust bekommen, mitzuspielen?

Den Teil „Zeigen, wie die Welt heute ist“ spare ich mir zur EU an dieser Stelle, denn dazu können Sie auf dieser Seite wahrlich hinreichend  niederschmetternde Fakten finden. Das gehört ja auch noch zum Handwerk des alten Journalismus. Kommen wir gleich zum Neuen, zum „wie sie morgen sein könnte“:

Demokratisieren wir diese Union doch. Machen wir zuerst aus dem Europäischen Parlament ein richtiges Parlament mit all den parlamentarischen Rechten, die jedes Abgeordnetenhaus in der EU selbstverständlich hat. Dazu gehört beispielsweise das Initiativrecht, das heißt., auch Europaparlamentarier sollten Gesetzesvorschläge einbringen dürfen. Das darf gegenwärtig nämlich nur die EU-Kommission, die sich damit in einen ganz eigenen Adelsstand erhoben hat.

Darüber hinaus sollte, wie in jedem demokratischen Gemeinwesen üblich, keine EU-Richtlinie, Verordnung oder Vereinbarung Gesetzeskraft erlangen, die nicht im Plenum abgestimmt wurde. Wer glaubt, das wäre jetzt schon so, irrt. Zwar gibt es Richtlinien über die abgestimmt werden muss, aber es gibt auch Bereiche, da müssen die gewählten Abgeordneten eine Abstimmung eigens einfordern, sonst erlangt die Verordnung auch ohne Legislative ihre Rechtskraft. (Mehr dazu siehe hier).

Weg mit Stimmengewichtung und Quotenregelung

Kommen wir zur EU-Kommission, der quasi Regierung dieser Union. Sie sollte, wie jede Regierung, vom Parlament gewählt werden. Sollten Sie einwenden, dass das doch auch schon jetzt geschieht, so stimmt das leider nur zum Teil. Wählen können die Abgeordneten nur zwischen Zustimmung und Nichtzustimmung zu den Kommissionsmitgliedern, die ihnen aus den Kungelrunden der Regierungen präsentiert werden. Weder kann eine Fraktion einen Kandidaten selbst vorschlagen, noch gibt es eine Auswahl. Auch hier herrscht das Prinzip der Alternativlosigkeit.

Ein demokratisch gewähltes Parlament kann eigentlich auch keine ungleiche Gewichtung von Wählerstimmen haben. Heute gilt, je kleiner das Volk, desto mehr Abgeordnete kann es, gemessen an der Zahl der Wähler entsenden. Das ist doch ein alter Zopf aus Zeiten nationaler Befindlichkeiten und müsste deshalb fallen. Auch die Quotenregelung nach Herkunft bei den Kommissionsmitgliedern repräsentiert kein selbstbewusstes und einheitliches Europa.

Wenn es darum geht, dass einzelne Staaten davor geschützt werden müssen, eventuell durch eine europäische Mehrheit quasi fremdbestimmt zu werden, weil ihre Bürger dem weisen Ratschluss aus Brüssel nicht folgen mögen, gäbe es doch andere Möglichkeiten. Wie wäre es, wenn nationale Parlamente eine EU-Verordnung mit einem Nichtanwendungsbeschluss für ihr Land außer Kraft setzen dürften? Es gäbe dann ganz automatisch ein „Europa mehrerer Geschwindigkeiten“.

Lassen Sie uns hier den kleinen Versuch mit „konstruktivem Journalismus“ beenden, bevor ich Sie irgendwann mit einer völlig naiv zusammengewünschten Traum-EU langweile. Beim Blick zurück in die EU-Wirklichkeit ist selbst der zurückhaltendste Traum von etwas mehr Demokratie schnell verflogen. Beispielsweise wenn man nur ein paar Tage nach dem Brexit-Referendum diese Meldung liest: „Die Parlamente der europäischen Staaten sollen nach dem Willen der EU-Kommission von der Entscheidung über das ausgehandelte Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta) ausgeschlossen werden. Dies teilte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker beim Brüsseler Gipfel den 28 Staats- und Regierungschefs mit, wie die Deutsche Presse-Agentur am Dienstag erfuhr.“

Der Ausschluss gewählter Abgeordneter von grundsätzlichen Entscheidungen dürfte die EU nicht populärer machen. Die Zeit ist vielleicht noch nicht reif für den konstruktiven Journalismus.

Zuerst erschienen auf Peter Grimms Blog Sichtplatz hier

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Burkhard Minack / 01.07.2016

Herrn Grimm ist vollumfänglich zuzustimmen. Aus eigener Erfahrung: Das war bereits das hehre Manifest für die Journalisten und andere Staatsbedienstete der DDR, die im Grenzbereich der sozialistischen Realität tätig werden mußten (selbst für die Kabarettisten, wenn die denn weiterhin professionell tätig sein wollten…): “...Wir sprechen nicht nur über Probleme, sondern fragen täglich: Wie kann es besser werden? Unsere Beiträge vermitteln Zusammenhänge und diskutieren Lösungen.“ Der kleine Unterschied war ein eingeschobenes “noch”: “Wie kann es noch besser werden”. Es sit zu befürchten, das kommt auch…noch. Und ich hätte das bis vor geraumer Zeit im neuen D nicht für möglich gehalten…

Wolfgang Richter / 30.06.2016

Was Herr Juncker nach juristischer Prüfung bezüglich der “CETA-Wirklichkeit”  nun an Demokratieverständnis offenbart, zeigt doch jedem bisher noch EU-Wohlwollenden, daß dieser Hüter der Meinungshoheit auf einem vollkommen anderen Denk-Planeten hausen muß. Neben den diversen Statements zum “Brexit”, die nur seinen derzeitigen psychischen Zustand des kindlichen Beleidigtseins spiegeln, hat er ansonsten an diesem Ergebnis nichts begriffen und schlägt mit seiner “CETA-” Entscheidung, die ja dann wohl auch für TTIP gelten dürfte, einen weiteren Nagel in den Sarg, mit dem man sodann in absehbarer Zeit die heutige EU zu Grabe tragen wird. Man könnte Junckers Denke auch mit der hier heute lesbaren Überschrift “Herr Juncker, haben Sie den Schuß nicht gehört?” trefflich beschreiben.

Karla Kuhn / 30.06.2016

Merkel warnt, Schäuble hat sogar einen Plan, Junker und Maas wollen abschrecken aber keiner macht eine ehrliche Analyse, warum es so weit gekommen ist.  Mittlerweile weiß das schon jedes Kind, nur die Politkaste hat Ohrstöpsel und eine Augenbinde. Um Gottes Willen, ja nicht tief graben, dann kommen die ganzen sinnlosen, hirnrissigen Aktionen der EU “Experten” ans Tageslicht, die in Gutsherrenmanier mal so einfach verabschiedet wurden.  Das muß verhindert werden.  Genauso wie Junker verhindern will, dass die Parlamente über CETA abstimmen, dass sollen nur die Brüssler Geistesgrößen entscheiden. Das ganze Theater zeigt, dass der Brexit überfällig war und dass, wenn keinerlei Reue gezeigt wird, weitere Länder folgen werden. Schulz und Junker sollen ihren Hut nehmen.

Daniel Briner / 30.06.2016

Schlussendlich reden wir zuerst über einen 10-Mrd. Parlamentsbetrieb, um es in etwa aktuell mit Putins Worten (!) zu sagen, der noch einiges verreckter sei als seinerzeit der Sowjet; als Schweizer werde ich schon jetzt von unseren eigenen Parlamentariern und Regierenden lautlos in Rechten und Eigentum ständig, also vor zu, entschädigungslos enteignet, also im Gegenteil, die Steuern steigen immer, damit wir diese Beamteten zuerst mal haben, und die Gebühren steigen immer, wenn sie anfangen etwas zu arbeiten. Wenn sie von rotgrün nach schwarzweiss nur schon über irgendetwas nachzudenken beginnen, haben alle zusammen im Land verloren, und zwar in jedem Fall. Das grösste Problem in jedem Land sind nun mal diese völlig überbordenden Staatsbeamtenapparate und -Gesetze, für die man zuerst mal die erste Hälfte des Jahres arbeitet. Wir Schweizer dürfen uns sogar als Souverän bezeichnen, also unser Staatsapparat sei uns verpflichtet etc., also nur auf dem Papier, es ist ja die Tinte, die lügt.

Marcel Seiler / 30.06.2016

Ohne eine gemeinsame Sprache der Europäer geht Demokratie auch bei mehr Parlamentsrechten nicht, weil es kein europäisches Volk, verstanden als Kommunikationsgemeinschaft, gibt. (Oder für Leute, die das Wort “Volk” problematisch finden: es gibt keine “europäische Gesellschaft”). Ohne eine gesamteuropäische Kommunikationsgemeinschaft aber vetreten auch Parlamentarier nicht “das Volk”, sondern sind Abgesandte ihrer europäischen Völker, die miteinander in europäischen Gesetzes-Tauschhandel treten, ähnlich wie Frau Merkel jetzt mit Herrn Hollande und den anderen das in Nacht- und Nebelsitzungen tun. Für eine europäische Demokratie brauchen also als erstes eine gemeinsame Zweitsprache in allen europäischen Staaten, die alle Europäer dann ziemlich gut beherrschen. In dieser Sprache müssten dann alle politischen Meinungszeitungen veröffentlichen. Und die Gesetze geschrieben werden. Diese Sprache kann m.E. im Moment nur Englisch sein. Und da geht das Problem schon los… Europa hat eben das Problem des Turmbaus von Babel. (Sehr klug, diese Alten, dass die das Problem schon erkannt hatten.)

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