Emmanuel Macron verbreitet europäische Visionen und Deutschland schweigt, obwohl die Pläne des französischen Präsidenten eine Gefahr für den Zusammenhalt der EU sind.
An Frankreich ist der Lack ab. Doch in Deutschland beginnt schon die Verklärung. In anmutiger Vertrautheit fragt Deutschlandfunk-Moderator Jürgen Zurheide am 27.4.2024 das erlöschende ARD-Gestirn Ulrich Wickert (Originalton Zurheide: „Ulli Wickert braucht man nicht vorzustellen“), was er von der Macron-Rede an der Sorbonne halte.
Woher die unterstellte Kompetenz des ehemaligen Tagesschau- und Tagesthemensprechers zu Frankreichthemen kommt, erklärt Zurheide dem geduldigen Hörer nicht. Aber wer Bücher wie „Der Himmel über Paris“, „Mein Paris“, „Die Schatten von Paris“ verfasst hat, muss wohl unwiderlegbar zu der Frage, wie man Frankreich politisch zu beurteilen habe, in öffentlich-rechtlichen Medien als kompetent gelten.
Ja, so Wickert, es sei eine visionäre Rede von Macron, mit der Frankreich einmal mehr die politische Führung in Europa beanspruche. Immerhin fügt er kritisch hinzu, dass immer, wenn Frankreich wie einst 1963 von deutsch-französischer Annäherung rede und Europa stärken wolle, damit der mittlerweile offene Hintergedanke verbunden sei, Deutschland von Amerika zu lösen und ein Gegengewicht zur Nato zu bilden. Doch von diesen Gemeinplätzen abgesehen, scheint Wickert, der von Zurheide wie ein Gott hofiert wird, wenig über die interne Situation und den Autoritätsverfall von Macron in Frankreich zu wissen. Dass Frankreich in den Macron-Jahren zu einem Hochschuldenland geworden ist und das gegenwärtig avisierte Defizit von fast 6 Prozent (bei erlaubten 2 Prozent des BIP) erreichen wird, und dass es hierfür keinerlei Ausreden gibt, scheint Wickert mit Billigung von Zurheide dem Hörer vorenthalten zu wollen.
- Dass Frankreich zwar von Europa redet, aber seine atomare Rüstung in keinem Falle der europäischen Verteidigung zur Verfügung stellen wolle, unterschlägt Wickert ebenso.
- Dass Macron gerade in der Beurteilung des westlichen Bündnisses (einst sagte er, die NATO sei gehirntot) sich ebenso geirrt hat, wie in der Einschätzung von Putin, wird bei der Beurteilung des französischen Staatspräsidenten nicht mit einbezogen. Immerhin meinte Macron, das Talent zu haben, Putin einhegen zu können, plädierte im westlichen Bündnis für mehr Verständnis gegenüber den Ansprüchen des Kreml-Herren und pilgerte nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Frühjahr 2022 brav an den Tisch des Diktators. Erst kürzlich plädierte er dann für den eventuellen Einsatz von Bodentruppen.
Dass die Machtergreifung Macrons im Wesentlichen der Großzügigkeit eines mittlerweile verstorbenen Pariser Großbankiers zu verdanken ist, der für die Werbekampagne der von Macron geschaffenen Partei viele Millionen Euro zur Verfügung stellte, scheint in öffentlich-rechtlichen Medien Deutschlands noch nicht zu den gesicherten Erkenntnissen zu gehören. Indessen spricht man hierüber in Frankreich überall und sieht Macron als einen Grund dafür an, dass die Legitimität der politischen Klasse Frankreichs zunehmend von den Franzosen bezweifelt wird.
Ja, so Wickert und im Folgenden auch sein Souffleur Zurheide, der mit einer Französin verheiratet ist, zwischen Scholz und Macron funke es nicht so besonders, weil es wohl Mentalitätsunterschiede gäbe. Aber dies habe es immer gegeben und irgendwo würden sich dann die Länder schon zusammenraufen. Dass Deutschland mit seinem kumpelhaften Verteidigungsminister bei dem gemeinsamen Panzerprojekt praktisch die industrielle Führung an Frankreich abgegeben hat, ist weder Wickert noch Zurheide bekannt.
Der unverhohlene französische Führungsanspruch in Europa, insbesondere nach dem Ausscheiden von Großbritannien aus der EU, wird von vielen Ländern in der EU kritisch beäugt. Finnland, die Slowakei, Österreich, Tschechien, Dänemark und Schweden aber auch Italien und Spanien können den visionären Reden Macrons nichts mehr abgewinnen. Nur in Deutschland, dem einzigen Land mit faktischer Vetomacht innerhalb der EU, wird Macron von den öffentlich-rechtlichen Medien und der politischen Klasse weiterhin der Hof gemacht. Angesichts der innenpolitischen Fehlleistungen und der hierdurch erzeugten Flucht in außenpolitische Projekte wird indessen Frankreich mehr und mehr zu einer Belastung der Europäischen Union.
Europa ohne Frankreich? Das ist nur eine theoretische Frage. Aber Europa ohne Macron könnte in absehbarer Zeit nicht nur Realität werden, sondern eine Notwendigkeit sein, um die EU zusammen zu halten.
Mehr zum Thema finden Sie auch hier: Markus C. Kerber, Europa ohne Frankreich, Deutsche Anmerkungen zu französischen Fragen Reprint Edition Europolis 2013
Dr. jur. Markus C. Kerber ist Professor für Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin, Gründer von http://www.europolis-online.org