2006 war Deutschland WM-Gastgeber. Es war das „Sommermärchen“ in einem Land, das gern zeigte, wie gut fast alles funktionierte. 2024 ist Deutschland EM-Gastgeber und zeigt, welchen Niedergang die Funktionstüchtigkeit des Landes inzwischen hinter sich hat. Aber im Weltrettungsanspruch sind wir noch Weltmeister.
Auch wer am Fußball an sich eher wenig Interesse hat, kommt nicht umhin, eine Europameisterschaft im eigenen Land irgendwie zu verfolgen. Vielleicht nicht unbedingt die Spiele, aber als Ereignis mit all seinen Stimmungen, die es im Gemeinwesen so auslöst. Kollateralschäden wie Kollateralnutzen nimmt auch jemand wie ich natürlich wahr. Insbesondere dann, wenn man in einer Stadt lebt, die zu den Spielorten gehört.
So war es auch 2006 bei der Weltmeisterschaft, der nahezu alle Beobachter aus den Medien in ihrer Bilanz bekanntlich den Titel „Sommermärchen“ zuschrieben. Die WM-Zeit schaffte damals in der Tat eine Atmosphäre, die auch Fußball-Abstinenzler genießen konnten. Oder verklärt sich da etwas im Blick zurück?
Unterwegs in der deutschen EM-Wirklichkeit des Jahres 2024 kommt einem das Erleben der WM 2006 im Vergleich tatsächlich ziemlich märchenhaft vor. Insbesondere die Funktionstüchtigkeit der Verkehrsverbindungen zwischen den Spiel-Städten – kein ganz unwichtiger Aspekt für ein solches Event – unterscheidet sich dramatisch zwischen 2006 und 2024.
An dieser Stelle muss ich neben meinem Fußball-Desinteresse eine weitere soziale Auffälligkeit gestehen. Ich bin seit vielen, vielen Jahren notorischer Bahn-Fahrer. Das finden wahrscheinlich deutlich mehr Leser bedenklich, als wenn ich erklären würde, regelmäßig im Sado-Maso-Studio nach Schmerz und Pein zu verlangen. Das tue ich nicht, sondern lasse mich auf meinen alltäglichen Wegen von der Deutschen Bahn peinigen und zahle dafür. Das ist allerdings weder Lust noch Neigung, aber wenn ich unterwegs sein muss, dann möchte ich arbeiten, lesen, schreiben oder tief in Gedanken eintauchen können, ohne mich ums Fahren kümmern zu müssen. Da ich gern mal ganz tief in Gedanken eintauche, ist meine – trotz erworbenem Führerschein – weitgehende Lenkrad-Abstinenz auch ein wirklicher Beitrag zur Verkehrssicherheit. Würde ich im heutigen deutschen Politik-Pathos formulieren, könnte ich auch behaupten, dass mein weitgehender Verzicht, selbst ein Auto zu steuern, vielleicht Leben und Gesundheit einiger Mitmenschen gerettet hat.
„Letzte Reserven mobilisiert“
Doch ich schweife ab und will zudem keinesfalls die ständige Rettungsattitüde der meisten deutschen Politiker kopieren. Eigentlich wollte ich kurz ins sommermärchenhafte Jahr 2006 blicken.
Ich war damals wie heute viel mit der Bahn unterwegs und recht oft zwischen Berlin und Leipzig. Vor 18 Jahren hatte die Bahn einen beeindruckenden WM-Fahrplan aufgelegt. Täglich hatte sie damals rund 600.000 Fahrgäste zusätzlich befördert. Zeitweise soll sie dabei zwar „ihre letzten Reserven mobilisiert“ haben, wie es seinerzeit bei bahnnews.info hieß, allerdings ohne dass es dabei zu nennenswerten Problemen kam. Allein rund 250 zusätzliche Fernzüge wurden eingesetzt. Insgesamt seien in den vier WM-Wochen über 10.000 zusätzliche Züge auf Deutschlands Gleisen gefahren.
Für den Bahnreisenden des Jahres 2006 zwischen Berlin und Leipzig hieß das: Es fuhren viel mehr Züge als sonst, und die waren zwar voll, aber nicht überfüllt. Und die WM-Fahrgäste verbreiteten in der Regel auch keine schlechte Laune. In den allermeisten Fällen kamen sie pünktlich ans Ziel, und die Getränkeversorgung im Speisewagen funktionierte. Für jüngere Leser muss man vielleicht noch erwähnen, dass das damals in Deutschland eigentlich als selbstverständlich galt.
Bevor zu viel schwärmerische Nostalgie einzieht, sei hier erwähnt, dass das Kaputtsparen der Bahn mit dem Ziel eines Börsengangs in vollem Gange war, nur die Folgen zeigten sich erst nach und nach. Außerhalb der Bahnverbindungen zwischen den WM-Standorten wurde kaum noch in das Netz investiert, und die Bahnanbindung mancher Großstädte, in denen kein WM-Spiel stattfand, wurde bereits seinerzeit zusehends schlechter. Aber alles, was für die WM relevant war, funktionierte. Deutschland wollte sich nicht blamieren.
Im Vorfeld der EM 2024 konnte man oft hören und lesen, wie sehr sich unsere Verantwortungsträger darum bemühen wollten, dass es zu einer Wiederholung des Sommermärchens kommt. Sollte man sich als mittlerweile durch Zugverspätungen und -ausfälle sowie gelegentlicher Überfüllung gepeinigter Bahnfahrer vielleicht auf ein paar märchenhafte Wochen freuen können, in denen wieder – wie 2006 – die „letzten Reserven mobilisiert“ werden, damit die Bahn einigermaßen zuverlässig fährt?
Besser begründen
Ich nehme an, dass es vergebliche Liebesmüh ist, hier jetzt so etwas wie einen Spannungsbogen aufzubauen, weil Sie die Antwort bereits kennen. In den Medien konnte man schon von den österreichischen Fans hören und lesen, die trotz zeitlich großzügiger Reiseplanung wegen Bahn-Pannen nicht pünktlich zum Anpfiff des ersten EM-Spiels ihrer Mannschaft kamen. Und jeder, der einen Fernbahnhof betrat, konnte auch nach Beginn der EM für viele Züge die inzwischen alltäglichen Verspätungsnachrichten lesen.
Äußerst peinlich, doch wie in der Politik heißt es offenbar auch bei der Bahn, dass man grundsätzlich nie etwas falsch gemacht hat, sondern nur besser kommunizieren sollte, warum alles so sein muss, wie es ist. Und für Missstände ist jemand anders verantwortlich. In den letzten Tagen waren dies „Unwetter“.
Ja, es gab in manchen Regionen tatsächlich Sturm, Starkregen und heftige Gewitter. Bahnfahrer, deren Züge ausfielen oder langsam auf Nebenstrecken große Umleitungen fuhren, was für enorme Verspätungen sorgte, hörten tagelang zur Begründung, dies sei auf Unwetter zurückzuführen. Das klingt nach höherer Gewalt, für die die Bahn gar nichts kann. Aber ist das so? Waren alle Stürme, Regenfälle und Gewitter wirklich so überraschend und außergewöhnlich stark, dass sich niemand darauf vorbereiten konnte?
Der Verkehr stockte aufgrund blockierter Gleise. Es wurden keine Züge von der Strecke geweht, sondern zumeist stürzten Bäume aufs Gleis und/oder auf Oberleitungen, weshalb eine Strecke zeitweise unpassierbar wurde. Und hier erinnern sich ältere Bahnfahrer an Versprechen der Bahn, man werde die Bäume wieder, so wie vor Jahrzehnten, in Gleisnähe kappen, so dass kein umstürzender Baum den Bahnverkehr gefährden könne.
Vor sieben Jahren beispielsweise las man in der Welt:
„Eine Sache verwundert nach jedem neuen Sturm: Die Deutsche Bahn wirkt so, als sei sie eher bereit, die Verbindung zwischen – zum Beispiel Hamburg und Berlin – für eine Woche oder mehr ausfallen zu lassen, als ein paar Bäume zu fällen.
Als es noch Dampfloks gab, so erzählen die alten Sagen, gab es wunderschön gerodete Flächen links und rechts der Gleise. Auch in den 80er- oder 90er-Jahren hörte man eher selten von mehrtägigen Sperrungen, weil irgendwo ein Baum umgefallen war. Bäume tun das nämlich manchmal. Besonders bei Stürmen.“
Bäume am Gleis
Immer wieder beteuerte die Bahn in den letzten Jahren, jetzt aber dafür zu sorgen, dass kein Baum mehr aufs Gleis oder die Oberleitung stürzen kann. Immer wieder gab es dazu Papiere, wie diesen ordentlich gegenderten Leitfaden „Vegetationsmanagement an Bahntrassen der Deutschen Bahn AG in Niedersachsen“ aus dem Jahr 2019.
Trotz aller Ankündigungen und Arbeitspapiere der letzten Jahre standen offenbar auch 2024 noch etliche Bäume an den Bahnlinien, die bei Sturm aufs Gleis fallen konnten. Das kann niemanden überrascht haben. Der Welt-Kollege schrieb schon vor sieben Jahren zutreffend:
„Es ist ja nicht so, dass Bäume – selbst bei stärkeren Stürmen – kilometerweit durchs Land fliegen und alles vernichten, was ihnen in den Weg kommt. Die Dinger sind ziemlich schwer. Daher wird meist nicht geflogen, sondern einfach umgefallen. Ein Vorgang, der – je nach Zustand des Baumes – durchaus auch schon bei weniger Wind vorkommen kann. Was nicht vorkommen sollte, ist jedoch, dass nach einem Sturmtief in Norddeutschland quasi nichts mehr geht und fast 1000 Streckenkilometer von faul herumliegenden Bäumen betroffen sind.“
Nicht nur in Norddeutschland können Bäume die Bahn blockieren, sondern offenbar in ganz Deutschland. Daran ist dann das Wetter schuld. Neben den inzwischen üblichen Verspätungs-Begründungen, wie Polizeieinsatz, Notarzteinsatz, Stellwerksstörung, Weichenstörung, „Reparatur am Zug“ oder „Personen im Gleis“, gesellt sich nun immer öfter auch „Unwetter“ oder eine extreme Wetterlage. Bei „Unwettern“ wird bestimmt auch bald die „Klimakatastrophe“ ins Spiel kommen. Anschließend rettet man den Bahnverkehr dann wahrscheinlich lieber durch ein verstärktes Angebot an veganem Essen im Speisewagen als durch Beschneiden und Fällen von Bäumen.
Warten an Gleis 1
Solche Überlegungen stellen aber die EM-Touristen, die mit der Bahn zum Spielort fahren, bestimmt nicht an. Sie wollen einfach rechtzeitig ankommen, so wie die Franzosen und Niederländer, die am Freitagnachmittag von Berlin nach Leipzig zum Spiel ihrer Mannschaften fahren wollten, beispielsweise mit dem ICE, der 16.29 Uhr vom Berliner Hauptbahnhof abfahren sollte. Er stand pünktlich an Gleis 1 und fuhr nicht los. Einige Wagen waren heillos überfüllt, in den drei letzten Waggons war noch Platz.
Die Ansagen der Zugbegleiter erweckten zunächst den Eindruck, dass man erst losfahren könne, wenn einige Fahrgäste aus dem überfüllten in den nicht überfüllten Teil des Zuges wechseln würden. Zwanzig Minuten nach der planmäßigen Abfahrt des Zuges bedankte sich ein Bahnmitarbeiter per Lautsprecheransage für die Passagier-Wanderung durch den Zug zur besseren Lastenverteilung. Zugleich teilte er mit, man könne dennoch nicht losfahren, weil die Strecke über Wittenberg wegen eines Oberleitungsschadens gesperrt sei. Irgendwann ging es dann doch los, aber – so die Information – der Zug werde umgeleitet und käme mit zweistündiger Verspätung in Leipzig an. Wohlgemerkt, planmäßig fährt der Zug 75 Minuten. Als Grund wurde selbstverständlich immer wieder das Unwetter angeführt, das in der Region getobt hätte.
Die Fans und die anderen Fahrgäste konnten diesen Zug nach gut dreistündiger Fahrt aus Berlin endlich verlassen. Der ICE fuhr weiter nach München, allerdings nicht gleich. Der Zugbegleiter kündigte eine voraussichtliche Standzeit in Leipzig von 40 Minuten an. Begründung: Es fehle Personal, das noch in einem verspäteten Zug festsitze. Ersatzpersonal scheint es für solche Fälle offenbar an großen Bahnknoten wie Leipzig nicht zu geben. Daran aber ist nun wirklich kein Unwetter schuld.
Die Franzosen und Niederländer im Zug konnten es rechtzeitig zum Spielbeginn ins Stadion schaffen. Leipzig ist ja keine Stadt großer Entfernungen. Aber auch die nächsten Züge dürften durch die Sperrung und Umleitung erhebliche Verspätungen angesammelt haben.
Wer selten Bahn fährt oder immer Glück hat, könnte jetzt von einem Einzelfall reden. Aber es ist leider keiner. Jeder Bahnreisende kann solche Geschichten inzwischen in Endlosschleife erzählen, aber sie ermüden und langweilen irgendwann. Man gewöhnt sich leider irgendwann resigniert an Missstände, die man eigentlich nicht als Normalfall akzeptieren möchte. Peinlich ist nur noch, dass es in Deutschland nicht einmal gelingt, einen zuverlässigen Bahnverkehr wenigstens für ein paar Wochen auf ausgewählten Strecken zur Europameisterschaft anzubieten. Da erinnert man sich dann doch mit etwas Wehmut ans Sommermärchen.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.