Peter Grimm / 18.12.2023 / 06:00 / 82 / Seite ausdrucken

Parteien-Abwahl in Pirna

Deutschlands Kommentatoren sind aufgeregt. Nun hat es die AfD im sächsischen Pirna geschafft, das erste Oberbürgermeisteramt zu übernehmen. Allerdings trat der neue Oberbürgermeister zwar für die AfD an, will aber parteilos bleiben. Viel mehr als der AfD-Erfolg sollte die etablierte Politik das Votum gegen fast alle ihrer Parteien beunruhigen.

Als die Reporterin des MDR-Regionalmagazins „Sachsenspiegel“ am frühen Sonntagabend die ersten Ergebnisse des zweiten Wahlgangs der Oberbürgermeisterwahl in Pirna und damit den Wahlsieg des AfD-Kandidaten Tim Lochner verkündete, schloss sie ihren Bericht mit der Ankündigung ab, dass dieses Ergebnis auch für überregionale Aufmerksamkeit sorgen werde. Das war keine sonderlich schwere Prophezeiung, sorgt doch jeder kleine AfD-Wahlerfolg – selbst in einer sächsischen Kreisstadt, für deren Oberbürgermeisterwahl sich überregional zuvor noch nie jemand interessiert hat – im politisch-medialen Soziotop inzwischen beinahe für Panikreaktionen. 

Manche Kommentatoren beruhigen sich dann mit einer Rechnung, nach der der AfD-Sieg ja kein echter Sieg ist, denn Tim Lochner bekam gar keine richtige Mehrheit, sondern nur 38,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Dass das dem sympathisch wirkenden Tischlermeister reicht, um das Amt zu übernehmen, liegt am sächsischen Kommunalwahlrecht. Danach ist der zweite Wahlgang nicht zwingend eine Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten. Jeder Kandidat aus dem ersten Rennen darf auch ins zweite gehen. Viele tun das natürlich nicht, weshalb auch in Sachsen im zweiten Wahlgang zumeist zwischen zwei Kandidaten entschieden wird.

Doch in Pirna wollten weder die im ersten Wahlgang für die CDU angetretene Kandidatin Kathrin Dollinger-Knuth noch der für die Freien Wähler angetretene Ralf Thiele auf eine Teilnahme am zweiten Wahlgang verzichten. Hinter der CDU-Frau versammelten sich nun auch SPD, Grüne und Linke, also beinahe ein Allparteienbündnis rief zu ihrer Wahl auf. Der Freie-Wähler-Kandidat hatte hingegen wenig Neigung, an diesem Alle-gegen-einen-Parteienverbund mitzuwirken oder ihm Platz zu machen. Deshalb reichten für den Sieg des von der AfD ins Rennen geschickten OB-Kandidaten auch die gut 38 Prozent, die er errang. 

Was will uns welche Mehrheit sagen?

Viele geben deshalb den Gegenkandidaten des siegreichen Tim Lochner die Schuld, dass die AfD nun in Pirna diesen Erfolg für sich verbuchen konnte. Die von CDU, SPD, Grünen und Linken unterstützte Kandidatin Dollinger-Knuth landete mit 31,39 Prozent auf dem zweiten Platz, der Freie Wähler-Bewerber mit 30,08 Prozent auf Platz drei. Ein Alle-gegen-einen-Bündnis mit nur einem Kandidaten hätte demnach den AfD-Erfolg verhindern können. Eigentlich, so der Unterton in solchen Kommentaren, hat die AfD ja gar nicht gewonnen.

Können sich die anderen Parteien damit nun etwas beruhigen? Sie leben derzeit in der ängstlichen Erwartung, dass es im nächsten Jahr in Sachsen, wie auch in Thüringen und Brandenburg, nach den Landtagswahlen sehr schwer werden kann, gegen die AfD noch eine funktionierende Regierung zu bilden, weil diese in all diesen Ländern große Chancen hat, stärkste Partei zu werden. Sind nicht Allparteienbündnisse am Ende doch noch ein Ausweg für sie und den Erhalt der Brandmauer?

Vielleicht übersehen sie in ihrer Rechnung ein viel alarmierenderes Signal der Pirnaer Wähler. Denn über 68 Prozent von ihnen haben gegen die CDU, SPD, Grüne und Linke-Einheits-Kandidatin gestimmt, also gegen die Parteien. Wie viele Pirnaer Wähler für Tim Lochner gestimmt haben, weil sie das meiste Vertrauen in den ortsansässigen Tischlermeister hatten oder weil er ein AfD-Kandidat war, weiß niemand genau. Auffällig ist aber schon, dass er deutlich erklärt hat, kein AfD-Parteimitglied zu sein und auch keines werden zu wollen. In den Medien konnten die Wähler lesen, dass Lochner sich keiner Partei mehr anschließen wolle, nachdem er einst aus der CDU ausgetreten ist. 

Und die Freien Wähler verstehen sich ohnehin nicht als Partei wie alle anderen. Bei ihnen spielt auch praktische Politik eine größere Rolle als die Orientierung an Brandmauern. Ob die AfD tatsächlich einen „richtigen“ Sieg in Pirna errungen hat, kann man durchaus infrage stellen. Aber unzweifelhaft hat das Kartell der etablierten Parteien eine schallende Ohrfeige bekommen. Dieses Signal wollen all jene nicht sehen, die sonst bei jedem noch so kleinen Erfolg der AfD schon lautstark die drohende nächste Machtergreifung beschwören. Viele halten schon die Rede vom „Kartell der etablierten Parteien“ für eine „rechte Verschwörungserzählung“. Aber immer, wenn die etablierten Parteien im demonstrativen Zusammengehen gegen die eine böse Partei wie ein Kartell wirken, verlieren sie. Da ist Pirna kein Einzelfall. Doch bislang weigern sich die Parteien, diese Lektion der Wähler zu lernen. Und wer nicht verstehen will, was die Wähler einem sagen wollen, wird dafür in einer Demokratie irgendwann bestraft. 

 

Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.

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Hans-Peter Dollhopf / 18.12.2023

Herr Grimm, immer wieder einmal entfährt mir superlativer Wortschwall in der Hitze verbaler Gefechte. Wie das Grimmen (kleiner Scherz, nicht persönlich), das halt entfährt. Dieses lokale Ereignis jedoch bietet bereits für einen entfernten Betrachter Absolutes zur Faszination dar. Druidischer Zaubertrank, Griechisches Feuer ... alle Zutaten unter strengster Geheimhaltung! Großer Gott! Pirna? Pirna? “Wir wollen wie das Wasser sein. Das weiche Wasser bricht den Stein.” Ich kann mich nicht mehr an den Band-Namen erinnern, ob ich Wochen nach Tschernobyl in Lisboa während des Festivals mit Mitgliedern der Bots gequatscht hatte? Die sich irre freuden, dass man im Westen ihre Lieder kannte? Nicht einmal mehr der Name des Festivals will mir einfallen. “Festa do Sol?” Lisboa, 86, als der Begriff Faschismus noch eine nahe reale Erfahrung war. Nelkenrevolution. Sozialismus. “We are the world!” Bauernlegen, Vorbereitung auf den Brüsseler Binnenmarkt! Oh Gott! Wen ich nach diesem Jahr nie vergaß: Diesen vollkommen unhygienischen kleinen Strandhund, der doch vorher noch eine weggeworfene blutgetränkte Damenbinde ausgezuzelt hatte - damals war AIDS! - und dann aus meinem Schlafsack im Zelt ein kleines Schlafnest für sich gebaut hatte. Vergib uns unsere Schuld. Man muss das bitter wollen. Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und dein Recht wie die große Tiefe. HERR, du hilfst Menschen und Tieren. Wir waren wie gemacht gewesen für ein Team. Oh, ich schweifte ab! Der gewählte OB dort ist mir jedenfalls sehr sympathisch. Seine Zaubertrankkräuter mag sich jeder Politwissenschaftler selber suchen. Ich verrat nix. Falsche Hände und so.

Walter Gruber / 18.12.2023

Die AfD und die Freien Wähler sind die Vorreiter einer neuen Gruppe von Parteien, die den herrschenden Filz hoffentlich ablösen werden. Wenn es links die Wagenknecht-Partei gibt, in der Mitte die Freien Wähler, als Liberale die Krall-Partei und rechts die AfD, wer braucht dann noch die Ampel-Parteien und die Nach-Merkel-CDU?

Wolfgang Richter / 18.12.2023

“Ob die AfD tatsächlich einen „richtigen“ Sieg in Pirna errungen hat,”—Hätte die C-Kandidatin seitens der Allparteien-Koalition mit diesen 38 % gewonnen, wäre es sicherlich als “verdienter” und “gerechter” Sieg der “Demokratie verkauft worden. Also immer schön auf demTeppich bleiben und das Verlieren einfach mal eingestehen, Ihr Einheitsparteiler. Die c-Parteien könnten sich ja zuerst einmal für die letzten 18 Jahre vermurxelter Politik beim Wahlvolk entschuldigen und sich des die “Corona-Bürgerrechte” entziehenden Personals entledigen, die katastrophale Energiepolitik wenden und von der Migrationspolitik glaubhaft abkehren, als erste Maßnahmen. Dann könnte vermutlich doch der eine oder andere überlegen, die Truppe noch mal zu wählen.

Roland Völlmer / 18.12.2023

Und was wird jetzt in Pirna geschehen? Wird an Pirna die Klimawende scheitern? Nichts wird geschehen. Sturm im Wasserglas.

Jürgen Steinmeier / 18.12.2023

“Ein Alle-gegen-einen-Bündnis mit nur einem Kandidaten hätte demnach den AfD-Erfolg verhindern können.” Das ist keineswegs sicher. Es gibt unter den Wählern der “Freien” eine Zweiteilung: ein Teil will auf keinen Fall AfD wählen (zu rechts), der andere auf keinen Fall CDU (Schuld am gegenwärtigen Zustand des Landes). In welchem Verhältnis diese Stimmen sich auf AfD und CDU aufgeteilt hätten, wäre der Kandidat der “Freien” nicht zur zweiten Runde angetreten, weiß kein Mensch.

Marc Munich / 18.12.2023

@T.Weller “Sie verstehen Institution Kirche nicht” Sie assoziieren, leider typischerweise, mit meinem Beitrag ein Plädoyer für die “Institution Kirche”. Die kommt aber darin gar nicht vor!  Es ging lediglich um die Feststellung, dass sich im Jahre 1998 eine neue politische Kaste (alias 68’iger) aufmachte, die Geschicke des Landes künftig OHNE Gott(esbezug) zu bestimmen und ich nur feststelle, dass es seither - auch bei temporär guten Wirtschaftsdaten, Loveparade u. “Sommermärchen”,  immer weiter den gesellschaftspolitischen Bach runter geht.  Trans & Co als Politiker*INNEN als   Endstadium einer geistig völlig ruinierten Post-BRD o. ist da noch Luft nach oben? Jede Katastrophe beginnt mit kleinen Haarrissen. Und diese machte ich, selbst zur Verwunderung meiner strengen Mutter, im vorgenannten Jahr 1998 aus. Es wäre für den Heimbub “doch besser bei zwei schwulen Daddys als im Heim aufzuwachsen!” IST es das wirklich? Selbst ein islamkritischer H.M. Broder war (ist??) nicht davor gefeit, dennoch nichts gegen Moscheebauten in Deutschland zu haben.  Ging via Verlust der christlich-jüdisch Werte(-Religion), nicht nur der (oft unbewusste) Meta-Kompass einer abendländischen Gesellschaft flöten, sondern damit vor allem auch ihr VERBINDENDES GLIED über die rein famliliäre Bande hinaus? Fazit: Die (Post)Moderne kann aus sich heraus keine bleibenden Werte schaffen!  Tatsächlich ist das Versuchslabor Schland heute ein “Raum ohne Volk” und Identität. Mit ihrer Kritik - vor allem was diesen ominösen Jetztpapst betrifft - bin ich (obgleich selbst Katholik) ja vollkommen d’accord.  Dennoch: “DIE Instition Kirche” gibt es m. E. nicht!  Die Kirche besteht aus ihren einzelnen Gliedern und die können extrem großartig (siehe: Dietrich Bonhoeffer, Ruppert Mayr, Alfred Delp, Max Kolbe etc.) oder eben auch extrem mies sein. Obwohl letztere dann definitiv im falschen Job sind, denn: “Bei euch aber soll es anders sein” (Mk 10:43).  @ Illona Grimm, danke, liebe Grüße ;)

S.Busche / 18.12.2023

Vielleicht einfach mal: „Herzlichen Glückwunsch“ und „Viel Erfolg!“. Es könnte ja auch möglich sein, dass der am besten geeignete Kandidat gewählt wurde. Genau DAS ist für so ein Amt die wichtigste Eigenschaft. Qualifikation, nicht Parteibuch. Guten Morgen !

Sam Lowry / 18.12.2023

Neulich, im ÖRR: “MDR löscht kritischen Beitrag über mRNA-„Impfungen“”. War doch klar…

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