Der „Deutsche Presserat“ möchte die „wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit“ fördern. Zu diesem Zweck verteilt er Rügen für nicht so wahrhaftiges Geschreibsel. Die aktuelle Shitlist liegt jetzt vor. Über einen Verein, den nicht mal die Gerügten ernst nehmen.
In der Räterepublik Deutschland wimmelt es von Gremien, Ausschüssen, Kommissionen. Da gibt es Aufsichtsräte, Betriebsräte, Gemeinderäte, Verwaltungsräte, Beiräte, Ethikräte. Eine pumucklhafte Erscheinung mit stinkreichem Familienhintergrund hat gar einen „Guten Rat für Rückverteilung“ ins Leben gerufen, der 25 von ihm, dem Pumuckl, ererbte Millionen Euro an weltsanierende Initiativen ausschütten soll. Darum gab’s allerlei Bohei in den Medien. Obschon die Summe noch nicht mal für sehr viele Radwege in Peru langt.
Wenig bekannt ist ein Rat, der 1956 entstand. Der Deutsche Presserat e.V., getragen von Verleger- und Journalistenverbänden, möchte „für die Pressefreiheit und die Wahrung des Ansehens der deutschen Presse eintreten.“ Dazu befasst er sich – so steht es geschrieben – „mit der Beseitigung von Missständen im Pressewesen und tritt für den ungehinderten Zugang zu Nachrichtenquellen ein.“ Eine Sisyphusarbeit in der kontemporären Presselandschaft.
Wie läuft so etwas in der Praxis? Nun, der Presserat prüft an ihn herangetragene Beschwerden aus der Leserschaft von Print- und Onlinemedien. Kriterien, die ein sogenannter Pressekodex festlegt, sind etwa „Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde“, „Schutz der Ehre“, „Sorgfalt“, „Persönlichkeitsrechte“, „Schutz vor Diskriminierungen“, „Sensationsberichterstattung und Jugendschutz“, „Trennung von Werbung und Redaktion“.
Beschwerdeausschüsse entscheiden, ob eine Klage berechtigt ist, und, wenn ja, wie berechtigt. Bei geringen Verstößen gegen den Kodex spricht der Rat einen nicht-öffentlichen Hinweis aus. Für schwerere Verstöße setzt es eine Missbilligung, die ebenfalls unter dem Deckel bleibt. Härtestes Sanktionsmittel ist die Rüge, welche das gerügte Medium veröffentlichen soll. Das geschieht nicht immer. Die Bild publiziert Rügen nicht im gedruckten Blatt, allenfalls online.
Zahnloses Kätzchen
Seit einigen Jahren legt der Presserat nicht mehr offen, welche Medien auf das Veröffentlichungsgebot pfeifen. Das hat noch mehr zu seinem Image als zahnloser Tiger beigetragen. Wobei Tiger geprahlt ist, zahnloses Kätzchen träfe es besser. Tatsächlich gehen die Verdikte des Presserates den betroffenen Medien weit am Derriere vorbei. Die faktische Wirksamkeit des Vereins ähnelt somit der des Bundesrechnungshofs.
Was wird überhaupt gerügt, und wer? Auf den letzten Sitzungen im Juni 2024 kassierte Bild eine Rüge, weil sie das Foto eines halbnackten verwirrten Schauspielers im Polizeigriff veröffentlichte („verletzte Ehre“). Ferner eine Rüge wegen Nennung der Orte, in dem sich die Kinder einer Steakhouse-Erbin kurzzeitig aufhielten („Schutz des privaten Aufenthaltsortes“). Die Freizeit Revue wurde wegen eines Stückes über zwei Schlagerfuzzis gerügt, das eine sexuelle Beziehung zwischen ihnen insinuierte („schwere Irreführung der Leserschaft“).
Gegen merkur.de ergingen zwei Rügen wegen Überschriften wie „Habeck will Gasnetze stilllegen“. Warum dies „schwere Verstöße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht“ gewesen sein sollten, bleibt schleierhaft. Unbestritten gab es Gasnetze-Rückbau-Überlegungen in Habecks Beritt. Eine breite Palette von Medien hatte darüber berichtet, etwa die Frankfurter Rundschau.
Zuweilen fließen offenkundig politisch konnotierte Bewertungen in die Rügenbegründungen ein. Die Online-Ausgabe der Schwäbischen Zeitung wurde „wegen der ungeprüften Übernahme von Prognosen eines Hausarztes zu Pandemie“ gerügt. Der Doc hatte sich gegen Ende der Grippewelle dafür ausgesprochen, dem „Schreckgespenst Corona“ nunmehr angstfreier zu begegnen. Angesichts der ungezählten, von Medien ungeprüft übernommenen und später als grottenfalsch entlarvten Corona-Prognosen von Politikern und Wissenschaftlern wirkt dieser Rüffel des Presserates grotesk.
Rügensammler
Unangefochtener Champion beim Rügensammeln war und ist Bild, in den jüngsten Charts gleich mit 20 der 49 Rügen vertreten. Das liegt zum einen an ihrem Blattcharakter. Unverpixelte Tätervisagen, schräge Behauptungen, schrilles Gebölk, gepimpte Sensationen – so und nicht anders mögen es Käufer einer Boulevardzeitung. Wer ein Schnarchblatt wie die FAZ bevorzugt, lässt Bild liegen.
Es stimmt aber auch, dass beim Presserat oft Bezichtigungen gegen Bild eingehen, die aus den üblichen linken Ecken stammen. Denunzianten wie die Leute um den Bildblog, ein sich seit 20 Jahren an Springers Schlammgeschütz abrackerndes Häuflein von Erbsenzählern, monieren noch die kleinste vermeintliche oder wirkliche Ungereimtheit in Bild-Stücken mit dem Fanatismus derer, die ihren Lebensdämon gefunden haben. Obwohl der Presserat die abgelehnten Beschwerden inhaltlich nicht benennt, darf man getrost annehmen, dass auch diese zum erklecklichen Teil von glühenden Bild-Hassern stammen.
Umgekehrt erhält ein zumindest presseähnliches Organ, das regelmäßig an ganz vielen Ecken schief gewickelt ist, kaum Rügen. Die taz wird offenbar nur selten beim Presserat angeschwärzt. Was daran liegen könnte, dass kaum jemand außerhalb der Kernleserschaft sich für sie interessiert. Oder liegt es am Wohlwollen des Presserates, in dessen Beschwerdeausschüssen sich reichlich Vertreter der grünrot marmorierten Journalistenverbände dju und DJV tummeln?
Einmal, im Jahre 2020, trudelten gegen eine taz-Schmähschrift allerdings sage und schreibe 382 Beschwerden beim Presserat ein. Eine nonbinäre Kreatur schwer aussprechlichen Namens hatte über die „Abschaffung der Polizei“ halluziniert, die Preisfrage gestellt: „Wohin mit den über 250.000 Menschen, die dann keine Jobs mehr haben?“ Ihre Auf-, wenn nicht Endlösung:
„Spontan fällt mir nur eine geeignete Option ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten.“
Gedankenspiel?
Jedes im Mainstream halbwegs ernstgenommene Medium hätte sich dafür eine achtkantige Rüge eingefangen. Der Presserat erklärte den faschistoiden Auswurf jedoch zum lässlichen „Gedankenspiel“: Lesen, staunen:
„Die Polizei als Teil der Exekutive muss sich gefallen lassen, von der Presse scharf kritisiert zu werden, bewertete der Beschwerdeausschuss. Die Satire bezieht sich im Kern auf die gesellschaftliche Debatte über strukturelle Probleme bei der Polizei wie Rechtsradikalismus, Gewalt und Rassismus.
Die Mitglieder kamen mit überwiegender Mehrheit zu dem Schluss, dass der Text nicht gegen die Menschenwürde von Polizistinnen und Polizisten nach Ziffer 1 des Pressekodex verstößt, da sich die Kritik auf eine ganze Berufsgruppe und nicht auf Einzelpersonen bezieht. Die Polizei ist zudem eine gesellschaftlich anerkannte Berufsgruppe, die nicht unter den Diskriminierungsschutz nach Ziffer 12 des Pressekodex fällt, anders als etwa Angehörige von religiösen oder ethnischen Minderheiten.
Die Wortwahl ‚Mülldeponie‘ als einziger Ort für die Polizei berührt aus Sicht des Presserats Geschmacksfragen, über die sich streiten lässt, die aber keine Grundlage für die ethische Bewertung sind. Die Interpretation einiger Beschwerdeführer, Polizisten würden mit Müll gleichgesetzt, ist aus Sicht des Gremiums nicht zwingend. Es handelt sich hier um ein drastisches Gedankenspiel, das aber – wie aus der Kolumne hervorgeht – Raum für unterschiedliche Interpretationen bietet und daher noch unter die Meinungsfreiheit fällt.“
Im Grunde ist diese ethische Insolvenzerklärung noch das Geringste, was sich gegen den Presserat vorbringen lässt. Schlimmer: Der Verein befindet in der Regel bloß über Petitessen. Dass die Yellow Press irgendwelchen Prominenten irgendetwas andichtet – gähn. Über das Thema gibt es ganze Best-of-Listen, über die man sich entrüsten oder schlapplachen kann.
Fühlt ein Promi sich verleumdet, kann er das verantwortliche Yellow per Gericht finanziell zur Ader lassen. Günter Jauch macht das oft, meist mit Erfolg. Was, bitte, schert solcher Pipifax den Presserat? Will er ausgerechnet damit „zur Wahrung des Ansehens der deutschen Presse“ beitragen? Seit wann gehört vierfarbiger Müll wie die Freizeit Revue zur „deutschen Presse“?
Nichts an den Reparaturversuchen des Presserates, versteht sich, kann etwas am Hauptdilemma ändern: Der Haltungsjournalismus von Alarmisten, Agitatoren, Aktivisten hat die Medienlandschaft nachhaltig verwüstet. Hat seit zehn Jahren mittels Kampagnen, Framing, Verächtlichmachung von Kritikern und Beschweigen unliebsamer Fakten das Gedöns von „wahrhaftiger Unterrichtung der Öffentlichkeit“, welche „oberstes Gebot der Presse“ sei (Ziffer 1 des Pressekodex), ad absurdum geführt.
Mal abgesehen von der großen Havarie: Will der Rat das „Ansehen“ der Presse wenigstens kleinteilig verbessern? Dann müsste er sich komplett neu aufstellen. Das Personal verfünffachen, selber die gröbsten Presseklöpse aufdecken, viel größere Räder drehen. In immer engeren Zyklen laufen ja Wellen von Desinformation durchs Land, deren Urheber und Weiterverbreiter an den Pranger gehören.
Also, jeder, der heute noch immer von „Hetzjagden“ in Chemnitz schreibt, ohne wenigstens Anführungsstriche zu setzen, gehört auf die Shitlist (wegen Ziffer 2 des Kodex, „Sorgfalt“). Jedes Medium, das die Zappelstrom-Lobbyistin Claudia Kemfert dem Publikum als objektive „Energieexpertin“ oder „Ökonomin“ verkauft, hat gerügt zu werden (wegen Ziffer 7.2, „Schleichwerbung“). Jedem, der von „Deportationen“ faselt, die auf einem „Geheimtreffen“ in Potsdam geplant worden seien, muss eine Richtigstellung abverlangt werden (Ziffer 3.1, „Richtigstellung“).
Die Liste publizistischer Großschandtaten ist ellenlang. Da war der Fall Sebnitz aus dem Jahre 2000, als nahezu sämtliche Medien ebenso hysterisch wie falsch berichteten, Neonazis hätten ein Kind im Freibad ertränkt. Da war die Mär von Neonazis, die – ebenfalls im Jahre 2000 – einen Anschlag auf eine Synagoge in Düsseldorf verübt haben sollten (der ungeheure Presserummel löste den berüchtigten „Aufstand der Anständigen“ aus, bis schließlich zwei Araber die Tat gestanden). 2021 lief ein veritabler Pressefeldzug gegen Angestellte eines Leipziger Hotels, die den jüdischen Musiker Gil Ofarim diskriminiert haben sollten (bis dieser viel später zugab, den Vorfall erfunden zu haben).
Und dann war da die Kampagne der Süddeutschen Zeitung gegen den Freie Wähler-Chef Aiwanger mit der Absicht, den Ausgang der bayrischen Landtagswahlen zu beeinflussen. Dafür gab es nicht nur keine Rüge des Presserats. Es gab für die überaus fadenscheinige Recherche 2024 den Stern-Preis. Was sogar linksgewirkten Medienkritikern ein Bäuerchen entlockte.
Die aktuelle Sau im Dorf: ein angeblicher Angriff auf schwarze Mädchen, die von rassistischen Jugendlichen zusammengeschlagen worden seien. Zwar, die lupenreinen Fake News flogen bald größtenteils auf. Doch zwischenzeitlich hatten sämtliche Moraltrompeter sich schon echauffiert. Stoßrichtung: Wenn schwarzen Kindern „ins Gesicht getreten“ wird, ist die AfD schuld.
Übrigens, seine Arbeit für „ethische Standards und Verantwortung im Journalismus“ (Präambel) beschränkte der Presserat von Anbeginn auf Printmedien, nahm später noch deren Online-Auftritte hinzu. Weise Entscheidung. Müsste er auch noch all den Murks in den Fernseh- und Radiosendern be- oder verurteilen – Himmel, was für eine Aufgabe!
Und was für eine Spaßbremse. Stünde zum Beispiel der Staatsfunk schärfer unter Beobachtung, so entgingen dem Publikum womöglich herrliche Hybride aus technischer Ahnungslosigkeit und ideologischer Beseeltheit. Wie sie exemplarisch in der Reportage einer Tagesschau-Mitarbeiterin sprossen. Die hatte über den Wunder-Fernseher eines afrikanischen Tüftlergenies berichtet. Der Apparat verbrauche keinen Strom, sondern erzeuge sogar welchen. Klagte die Autorin: „Die Erfindung könnte Schule machen, aber für Innovationen aus dem südlichen Afrika gibt es wenig Aufmerksamkeit.“
Daher niemals die Öffis rügen! Für ihre „Demokratie-Abgabe“ (Jörg Schönenborn) haben die Demokratieabgebenden zumindest Anspruch auf zünftige Comedy. Auftritte von Georg Restle, Anja Reschke, Sven Plöger, wer möchte denn darauf verzichten?
Wolfgang Röhl, geboren 1947 in Stade, studierte Literatur, Romanistik und Anglistik. Ab 1968 Journalist für unterschiedliche Publikationen, unter anderem 30 Jahre Redakteur und Reporter beim „Stern”. Intensive Reisetätigkeit mit Schwerpunkt Südostasien und Lateinamerika. Autor mehrerer Krimis.