Rainer Bonhorst / 16.05.2019 / 15:30 / Foto: Federico Grechi / 15 / Seite ausdrucken

So unterschiedlich ticken junge Europäer

Neulich bei einer Europa-Diskussion. Eine internationale Gruppe junger Wähler sagt, was sie von der EU hält (eine Menge) und verspricht, brav zur Wahl zu gehen. Damit nicht das passiert, was in England passiert ist: eine folgenschwere Überraschung, weil die englische Jugend, die privat und beruflich gerne in Europa unterwegs ist, daheim geblieben ist und das Feld den alten Empire-Träumern überlassen hat. Daheim geblieben, weil eine Stimme ja nichts bedeutet und weil der Pub-Besuch am Vorabend Spuren hinterlassen hat. Das soll den kontinentalen Altersgenossen bei der Wahl zum Europa-Parlament nicht passieren.

Sie gehen also hin. Mit Europa-Begeisterung? Ja, auch. Schließlich pendeln sie alle fröhlich durch Europas Schulen, Universitäten und Ausbildungsplätze. Ein Stichwort: Erasmus. Das wollen sie auf keinen Fall missen. Und da können die jungen Briten demnächst vermutlich nur noch neidisch zusehen. Aber die Begeisterung war nicht überschwänglich. Dabei zeigte sich eine interessante Dreiteilung.

Die ziemlich zufriedene Mitte: Frankreich, Deutschland, Österreich. Der Süden, der sich in der EU wirtschaftlich benachteiligt fühlt, teils selbstverschuldet, teils Europa geschuldet: Italien. Und der Osten, für den die EU einerseits ein sicherer Hafen ist, andererseits aber auch ein neuer Vormund: Tschechien, Polen und Lettland.

Die drei aus dem Osten fand ich besonders interessant. So wichtig die EU für sie war, so skeptisch zeigten sie sich nach und nach. Einer brachte es auf den Punkt, etwas zugespitzt, was nun mal die Eigenschaft eines Punkte ist: Erst kamen die Deutschen, dann kamen die Russen, jetzt haben wir die EU. Der junge Tscheche konnte sogar noch etwas tiefer in die Geschichte hinein tauchen und daran erinnern, dass vor den Deutschen und den Russen auch noch die Österreicher da waren.

 

Nun gut, man kann davon ausgehen, dass ihm die Österreicher lieber waren als die Deutschen und die Russen. Und für alle drei aus dem Osten gilt: Die Europäische Union ist der vergleichsweise angenehmste Vormund. Aber alle drückten den Wunsch aus, daheim in ihren Heimatländern mehr Entscheidungsfreiheit und weniger EU-Vorschriften zu haben. 

 

Mit diesem Wunsch sind sie in Europa nicht allein, aber bei ihnen war er besonders ausgeprägt. Wer Jahrzehnte lang und länger von außen gelenkt wurde, bei dem hält sich auch die Freude über eine etwas freundlichere und – im Vergleich – demokratischere Einmischung von außen in Grenzen. Mein Eindruck: Die drei sprachen nicht nur für sich sondern brachten von daheim eine weit verbreitete Stimmung mit.

 

Darum: Es sind nicht nur die offiziellen Buhmänner Orban und Kaczynski in Ungarn und Polen, die den Damen und Herren in Brüssel Ärger bereiten. Die beiden Halbdemokraten sind Galionsfiguren einer Skepsis, die einen ernst zu nehmenden Hintergrund hat. Sie verkörpern nicht nur die Sehnsucht nach autoritären Lösungen, sie verkörpern auch den Freiheitswillen von Leuten, die lange in Unfreiheit lebten. Und denen die EU zwar eine größere, aber keine ausreichende Freiheit bietet.

 

Die Stimmung der drei jungen Diskutanten aus dem Osten deutet auf eine für die Zukunft der EU wichtige Gesamt-Stimmung im Osten hin. Ein Hauch von Oxit? Nein, einen realen Oxit, also einen Austritt östlicher Länder, wird es nicht geben. Nach dem Brexit-Schlamassel schon gar nicht. Aber der kleine Diskussions-Oxit wies für künftige EU-Reformen in eine interessante Richtung.

 

Die Reform der Europäischen Union wird ja nach dem Brexit-Schock heftig debattiert. Allerdings, fürchte ich, nur scheinernst und in Richtung Wagenburg. Die immer engere Union – jetzt erst recht. Die Jungen aus dem Osten wiesen in die entgegen gesetzte Reformrichtung: mehr nationale Freiheit, weniger Brüssel. Das ist ja die Richtung, in die auch die Briten immer wieder drängten, ohne Gehör zu finden. Sind also die östlichen Länder die überlebende Hoffnung für alle, die das offiziell ja immer noch geltende Prinzip der Subsidiarität gegen den Zentralismus der immer engeren Union verteidigen?

 

Eine Hoffnung – ja. Aber ohne die ökonomischen und politischen Muskeln der Briten sind sie nur halb so stark. Ich fürchte, auch die nach mehr nationaler Freiheit dürstenden Osteuropäer werden sich weiter mit der Brüsseler Nanny-Union abfinden müssen. Denn Brüssel bleibt Brüssel und die Briten gehen weg.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

B. Klebelsberg / 16.05.2019

In einer multiethnischen, multikulturellen, oder auch nur freiheitsliebenden Föderation scheint es sinnvoll große und wichtige Entscheidungen für alle Mitglieder übergeordnet gleich gültig zu treffen. Das können beispielhaft Außengrenzen, Außenpolitik, Verteidigung, Zentralbank, Währung, und Freizügigkeiten sein. Dagegen wäre die Gurkenkrümmung, Sozialpolitik, nationale Steuern und ähnliche Dinge sicherlich besser bei den Regionen oder Bundesstaaten untergebracht. Meistens wäre es ausreichend einen weiten Rechtsrahmen zu setzen den die Mitglieder selbst ausfüllen müssen. Die EU leidet genau daran, dass diese Zuständigkeiten umgedreht sind. Die jeweils nationalen Politiken wollen möglichst keine “mächtigen” Kompetenzen an die EU übertragen, dafür darf sich die EU um jeden regionalen Kleinkram kümmern, den Leuten auf den Zeiger gehen oder als Lachnummer herhalten. Es führt zwangsläufig zu Unzufriedenheit wenn eine EU den Grenzschutz und die Verfolgung übernationaler Kriminalität nicht hinkriegt, dafür unwichtiger Kleinkram bis zur letzten Milchkanne exekutiert wird. So wird das nichts. Wie man es funktionierend macht, zeigen ganz unterschiedliche und relativ langzeitstabile Konstrukte beispielhaft: das römische Reich, die Vereinigten Staaten, die russische Föderation, Schweiz, Kanada, Brasilien. Eine EU als zahlloser Tiger ist sicher nur eines: überflüssig

Frank Mora / 16.05.2019

Brüssel-Europa mehr demokratisch als Orban und Kaczynski? Da lachen ja die Hühner! Die Protagonisten der immer engeren Union haben sich immer mehr von den Völkern und deren demokratischen Gesetzen entfernt. Jüngstes Beispiel: Das EuGH-Urteil zum Abschiebeverbot von illegalen “Asylbewerbern”, oder auch “Schutzsuchenden”, deren Anträge rechtskräftig abgewiesen und die rechtskräftig wegen schwerer Straftaten zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Eine Steilvorlage für die ob des Tollhauses Europabürokratie Verzweifelnden, die jeden Tag auf die Arbeit gehen. Von Sagres bis Rovaniemi, von Burgas bis Shannon. Da wirkt ein von niemandem gewähltes Richtergremium als Rechtsetzungsinstanz, die nationales Recht, das 28 von den Völkern gewählte Parlamente ins Klo kippt. Strache, Salvini, Le Pen oder Gauland sind Populisten? Und worin unterscheiden sich die Brexitneureferendumforderer von Erdogan? Wählen, bis des Ergebnis genehm ist?

Michael Lorenz / 16.05.2019

Orban und Kaczynski - Halbdemokraten? Und unsere Kanzlerin ist dann - was? Der demokratische Leuchtturm? Die den Verfassungsschutzpräsidenten feuerte, der zwar genau die Wahrheit sagte, aber Ihrer Majestät zu widersprechen wagte? Und den sie durch einen ihrer Systemlinge ersetzen ließ, der sich nun bemüht, die lästige Opposition kaltzustellen? Ich wünschte, wir hätten eine Halbdemokratin an der Spitze anstatt diese Zehnteldemokratin als Honeckers Rache!

Hubert Bauer / 16.05.2019

Warum sind Orban und Kaczynski Halbdemokraten? Orban hat eine satte Mehrheit eingefahren und Kaczynski hat überhaupt kein offizielles Amt. Beide haben sich aber schon vor dem Untergang des Kommunismus für Demokratie und Marktwirtschaft positioniert, als Merkel noch treu zu Erich dem Einzigen gestanden hat. Natürlich kann und soll auch auf der Achse Kritik an konservativen Politikern geübt werden, dann aber bitte standesgemäß mit solider Begründung.

Dr. Ralph Buitoni / 16.05.2019

Sehr geehrter Herr Bonhorst - Sie gerieren sich ja gerne als “Engländer-Versteher” auf der Achse. Ich muss Ihnen aber leider sagen: Sie keine Ahnung! Nicht über die britische Gesellschaft, nicht über die britische Geschichte, nicht über die Konfliktlinien in der Brexit-Frage. The Brexiteers als “Empire-Träumer” abzutun, oder als Verlierer wie die ganze regierungsamtliche Mittelstrompresse, ist nicht nur naiv, sondern zeugt von stupendem Nichtwissen. Die Brexiteers kommen aus der Mitte der Gesellschaft, sind im Gegensatz zu der gepamperten, unerfahrenen Schneeflöckchen-EU-Jugend mit ihren “safe-spaces” mitten im Leben stehend und produktiv arbeitend, verstehen etwas von wirtschaftlichen Zusammenhängen, gerade auch was die internationale Vernetzung und Globalisierung angeht. Es ist (auch und gerade in GB) ein Kulturkampf zwischen einer gesellschaftlich entkoppelten Finanzindustrie (mit ihrem weltweit bedeutenden Londoner Zentrum und der dort beheimateten Klasse der medialen Claqueure und akademischen Schaumschläger ) und dem übrigen Land, das gnadenlos deindustralisiert wurde. Es ist nichts weniger als ein Klassenkrieg. Wenn Sie sich schon unbedingt entschlossen haben, die Argumente eines Nigel Farrage (der sich übrigens in der Finanzindustrie im Unterschied zu deutschen Journos auskennt) nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, dann lesen Sie doch mal zur Abwechslung Stephen Kinnock (jawoll, das ist der Sohn des ehemaligen Labour Oppositionsführers Neil Kinnock) “Spirit of Britain Purpose of Labour” - Stephen Kinnock bedauert persönlich den Brexit, akzeptiert aber die Entscheidung des Volkes und bietet Ihnen einen etwas komplexeren Verstehenskontext als Ihre provinziellen England-Ressentiments, die direkt aus der Propaganda-Abteilung des Tirpitzschen Reichsmarineamtes von 1912 entnommen scheinen.

P.Steigert / 16.05.2019

Der Brexit wird, so meine ich, schon noch zum Erfolg. Aktuell kann die im Kern sozialistische und deshalb EU-zentrierte Presse das ganze aber noch sehr negativ darstellen. Allerdings ist Frankreich das Land mit den Unruhen und nicht GB. Was die Jugend denkt, interessiert mich kaum. Die stellen sich vor, die EU garantiert ihnen Abitur, Studium und Liebesglück in der Barcelona-WG. Also erstmal ganz lange nicht arbeiten - und dann einen durch Staatsknete finanzierten Job. Die werden dumm kucken, wenn die grünen Maoisten alle Wertschöpfer vertrieben haben. Die Zukunft der jungen Mitläufer heißt also nicht buntes Europa sondern wird eine Mischung aus Venezuela und Beirut sein.

Dr. Gerhard Giesemann / 16.05.2019

Die Jungen in GB wollen und wollten nie weg aus der EU - hoffe, sie kriegen die Kurve und können den BREXIT verhindern parlamentarisch oder durch ein neues Referendum - zu dem sie dann wohl HINgehen werden. So help them God.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Rainer Bonhorst / 29.06.2024 / 12:00 / 38

Der Altersverwirrte und die Mauschler

US-Präsident Joe Biden führte sich vor laufender Kamera selbst als kaum amtstauglich vor, ohne dass sein Herausforderer etwas dafür tun musste. Und wie reagiert Europa?…/ mehr

Rainer Bonhorst / 25.04.2024 / 14:00 / 6

Scholz und Sunak – ein spätes Traumpaar

Sie passen gerade gut zueinander: Ihre Länder stecken im Krisen-Modus und sie sind letztlich nur noch Regierungschefs auf Abruf. Er kam spät nach Berlin, aber…/ mehr

Rainer Bonhorst / 17.04.2024 / 10:00 / 31

​​​​​​​Die Bayer(n)-Revolution

Rekordmeister Bayern muss den Meistertitel an Bayer abgeben. Ein Menetekel für die Politik? Wie wird es weitergehen? San mir net mehr mir? Ist rheinisch das…/ mehr

Rainer Bonhorst / 12.03.2024 / 17:00 / 9

Die Kate-Krise oder viel Lärm um nichts?

Ein Familienfoto der Royals ist schon kurz nach Erscheinen als ungelenke Bildmanipulation entlarvt worden. Medialer Wirbel dank Photoshop! Ist Englands königliche Familie eine Fälscherbande? Wenn ja, dann keine…/ mehr

Rainer Bonhorst / 08.03.2024 / 12:00 / 19

Bye bye Nikki, hello Oldies

In den USA duellieren sich Biden und Trump um den Einzug ins Weiße Haus. In diesem Alter würde man in Deutschland weniger auf Karriere als…/ mehr

Rainer Bonhorst / 22.02.2024 / 14:00 / 26

Kamala gegen Nikki – ein Traum

Statt der beiden betagten Kontrahenten Joe Biden und Donald Trump wünsche ich mir eine ganz andere Konstellation im Kampf um das Amt des US-Präsidenten. Man…/ mehr

Rainer Bonhorst / 13.02.2024 / 12:00 / 39

Gendern im Fußball? Fans zeigen rote Karte!

Wie woke soll der Fußball sein? Oder genauer: Wie viele Geschlechter soll der Fußball kennen? Es wird Zeit, mal wieder auf den Fußballplatz zu gehen.…/ mehr

Rainer Bonhorst / 12.02.2024 / 12:00 / 35

Giorgia Meloni als Mamma Europa?

Georgia Meloni beginnt in Europa eine wichtige Rolle zu spielen. Die Politik hält sich mal wieder nicht an die ideologischen Vorgaben deutscher Medien.    Ja, darf…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com