Benedikt XVI.: Denker, Beter, Jahrhundert-Theologe

Benedikt XVI. war nach 500 Jahren der erste deutsche Papst. Mit ihm saß von 2005 bis 2013 ein Intellektueller und Theologe von Weltformat auf dem Stuhl Petri. Benedikt XVI. wurde gerade in seiner Heimat Deutschland oft und gerne angefeindet. Nun ist der Papa emeritus im Alter von 95 Jahren gestorben.

Reaktionär, weltfremd, Hardliner, Panzerkardinal: Über Jahrzehnte haben ideologische und kirchenpolitische Gegner von Joseph Ratzinger versucht, dem traditionsverbundenen Theologen böse Etiketten an die Stirn zu kleben. Der Papst sollte in der Öffentlichkeit als dogmatischer Finsterling erscheinen, als fundamentalistischer Gegner des Fortschritts, der den Menschen von heute nichts zu sagen hat. Im Zusammenhang mit einem Missbrauchsfalll aus seiner Zeit als Erzbischof von München (1977 bis1982) sprachen ihn die Medien jüngst wegen Lüge und Vertuschung schuldig, ohne einen einzigen Beweis und ohne Gerichtsverfahren.

In Wahrheit führte Benedikt XVI. den Kampf gegen Missbrauch in der Kirche so rigoros und systematisch wie kein Pontifex vor ihm. Und im Kern ging es bei den Kampagnen gegen seine Person gar nicht um konkrete, medial abgehandelte Fälle, sondern um den Versuch, seinen Charakter öffentlich hinzurichten. Das Ziel: Sein theologisches Werk sollte beschädigt und für künftige Generationen toxisch gemacht werden. Man wollte ein Denken diffamieren, das nie dazu bereit gewesen ist, die Essentials des katholischen Glaubens den Standards einer postchristlichen Wohlstandskultur zu unterwerfen, so progressiv sich diese auch geben mochte. 

Für eine heilsame persönliche und gesellschaftliche Entwicklung gewichtete der Theologe Ratzinger ein hörendes Herz in Richtung Gott und ein demütiges Mitgehen mit der katholischen Tradition stets höher als weltliche Sinnangebote, die Weisheit der Bibel und der Kirchenväter höher als Technik und Wissenschaft, Sanftmut und Gebet höher als politische Programme.

Vernunft und Offenbarung 

Ein Grundlagenwerk Ratzingers, die „Einführung in das Christentum“ (1968) beleuchtet Fragen zu Gott und Welt, Glauben und Wissen, Tod und Auferstehung. Dies geschieht nicht nur mit denkscharfer Klarheit, sondern mit der spürbaren Wärme eines kindlichen Gottvertrauens, das für Ratzingers Schreiben und Kommunizieren charakteristisch ist. Wie bei keinem Theologen seiner Generation sind Gottvertrauen und Vertrauen in die Tradition verknüpft mit einer kritisch prüfenden, in die Tiefe vordringenden intellektuellen Kraft. „Es gibt so viele Wege zu Gott wie es Menschen gibt“, sagte Ratzinger im lesenswerten Interview-Buch „Salz der Erde“ (1996), für das er sich vom damaligen Spiegel-Redakteur Peter Seewald drei Tage lang befragen ließ. Ratzinger war davon überzeugt, dass der katholische Glaube so nahe ans Innerste des Menschen rührt, an die Sehnsucht nach ewiger Liebe, dass wir nur die Hand auszustrecken brauchen, um zu merken, Gott ist da, war schon immer da, lässt uns nicht ins Leere fallen. 

Ging es um philosophische oder wissenschaftliche Fragen, vertrat Professor Ratzinger die Überzeugung, dass Vernunft und Offenbarung zusammengehören, so, wie das Erforschen der Welt und das Vertrauen in den Grund der Schöpfung zusammengehören. Eine reine Vernunft ohne Glaube werde kalt und herzlos, urteilte der Theologe, wie umgekehrt ein Glaube ohne Vernunft blind und fanatisch werde. 

Eine solche Heirat zwischen Glaube und Vernunft mag heutzutage wenig Applaus finden. Ratzingers Bedeutung als Denker hat ihm dennoch viele Ehrungen, Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden und Mitgliedschaften eingebracht, nicht zuletzt in der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Der „religiös unmusikalische“ Philosoph Jürgen Habermas, wie sich Habermas selber bezeichnet, setzte sich vertieft mit Ratzingers Denken auseinander. Im Jahr 2005 veröffentlichten die beiden gemeinsam das Buch „Dialektik der Säkularisierung“, das nach den vorpolitischen, ethischen Grundlagen des modernen Rechtstaates und seiner Macht fragt.

Das war für Ratzinger eine fundamentale Frage, nachdem er als junger Mensch, während des zweiten Weltkriegs, den Terror der Nazis miterlebt hatte. In dieser Zeit zeigte sich für ihn die Gefahr einer gottlosen, sich selbst legitimierenden Staatsmacht. In der Biographie „Benedikt XVI., ein Leben“ (2020) spricht Ratzinger von der „Ausgesetztheit im Moloch der reinen Macht“. Der Nationalsozialismus als „Dämon einer von Gott getrennten Gesellschaft, als Absturz ins Böse, der sich im Grunde jederzeit wiederholen kann“.

Bis heute Widerspruch und Anfeindung

In diesem Denken wirkt die Menschheitsgeschichte wie ein unaufhörliches Ringen zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Gottesliebe bis zum Selbstverzicht und Selbstliebe bis zur Gottesleugnung. „Wenn es nicht das Mass des wahren Gottes gibt“, so die Mahnung des Pontifex, „zerstört sich der Mensch selbst.“ 

Der engagierte, aus den Sakramenten lebende, von der Tradition gestärkte Katholizismus, den Benedikt XVI. sich wünschte, galt der Gestaltung einer Gesellschaft, die sich wappnen sollte gegen Massenmanipulation und Massendenken. Es ist kein Zufall, dass eine solche Sicht auf Religion – Religion als göttliches Korrektiv weltlicher Macht, als Sinn und Fundament des Menschseins – bis heute Widerspruch und Anfeindung auslöst. Gerade in einer fortschrittsgläubigen Zeit, die meint, Gott überflüssig gemacht zu haben, will niemand hören, dass ohne Gott die Menschlichkeit verlorengeht. Niemand will hören, dass die aktuelle High-Tech-Kultur das Christentum nicht überflüssig macht, ganz im Gegenteil. Dass der digitale Mensch ohne Gott verloren ist und die katholische Kirche das beste GPS-System bietet, um dieser Verlorenheit vorzubeugen.  

Benedikt XVI. hat weder an die Kraft eines atheistischen Humanismus noch an eine sittlich verbesserte Menschheit durch Technik und Wissenschaft geglaubt. Er hat die Anwesenheit des Heiligen ganz selbstverständlich vorausgesetzt und sich geweigert, das menschliche Dasein aufgehen zu lassen in der Banalität von Leistung, Konsum und Karriere. Das Sakramentale der Kirche war für ihn unverfügbar. Die Kirche war für ihn sogar die einzige wirkliche Gegenkraft gegen die Totalverwertung des Lebens und neue Formen des Totalitarismus. 

Das machte Benedikt XVI. für viele zum Ärgernis. Umso mehr, als er sich nicht beeindrucken ließ vom öffentlichen Druck gegen seine Person, vom Liebesentzug einer Gesellschaft, die als obersten Maßstab nur sich selber anerkennt. Diesem Papst ging es um das Erbe Europas und der freien Welt, um die Verteidigung des Menschseins selbst. Aus der Überzeugung, dass die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Wissen um die Verantwortung des Menschen für sein Handeln aus der Überzeugung eines Schöpfergottes entwickelt worden ist – und dass es gefährlich wäre, dies zu leugnen oder zu vergessen. Mit seinen Worten aus seiner Rede im Deutschen Bundestag am 22. September 2011:

„Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom entstanden, aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewußtsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.“

 

Giuseppe Gracia, ist Schriftsteller, Journalist und Kommunikationsberater. 
Von 2011 bis 2021 war er Beauftragter für Medien und Kommunikation im katholischen Bistum Chur. Dort wurde er Mitglied des Bischofsrates und Sprecher von Bischof Vitus Huonder sowie Bischof Peter Bürcher. Seine aktuellsten Veröffentlichungen sind die Romane „Der Abschied“ (2017) und „Der letzte Feind“ (2020) sowie das Sachbuch „Das therapeutische Kalifat: Meinungsdiktatur im Namen des Fortschritts“. Seit 2018 ist Gracia Kolumnist für die Schweizer Zeitung „Blick“.

Foto: H. Elvir Tabakovic / Propstei St. Michael CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Eva-Maria Glatzle / 01.01.2023

Vielen Dank, Herr Gracia! Danke auch den Kommentatoren, die - obwohl nicht gläubig oder katholisch - Papst em. Benedikt in einem positiven Licht sehen. Er war ein tief gläubiger, bescheidener, kluger und gebildeter Mann. Größte Anerkennung gebührt ihm für seinen unermüdlichen Einsatz für den Erhalt des Christentums in Europa. Ich glaube nicht, dass wir beurteilen können, was dieses Amt an Verantwortung mit sich bringt. Ein Papst - und das gilt auch für den jetzigen- ist nicht verantwortlich für das Versagen Einzelner. MfG

W. Renner / 01.01.2023

Benedikt war zweifellos ein grosser Geistlicher, im besten katholischen Sinne. Aber verglichen mit JP II in seinem Wirken recht unbedeutend. Das soll sein Lebenswerk nicht in Frage stellen, aber der Unterschied liegt in Geschichte schreiben und Geschichten schreiben.

Ludwig Luhmann / 01.01.2023

Wenigstens hat er Wahres über die Anhänger des Todes- und Tötungskultes gesagt.

A. Ostrovsky / 01.01.2023

@Michael Hinz : “Was hat er bewirkt, wenn ein neuer Gott so leicht an die Stelle des alten treten konnte?” Bei denen, die Gott nicht achten und deshalb ein Virus als zentralen Glaubensinhalt ansehen, konnte er nichts bewirken. Bei danen war ja Gott schon erfolglos. Es ist aber eine seltsame subjektive Sicht, zu beklagen, ein Virus hätte die Stelle Gottes eingenommen. Ist das so? Oder ist das nicht eher eine verdrehte Sicht, die oben und unten verwechselt. Hoffentlich ist es nicht der Versuch, die jenigen unter den Menschen, die an ein goldenes Kalb, einen Führer oder ein neuartiges Virus glauben von jedem Vorwurf abzuschirmen, indem ein Glaube, auch wenn es ein falscher ist, als etwas objektives erscheint, dem der einzelne Mensch passiv, ohne sein Zutun ausgeliefert ist. Die Wahrheit: Im Kopf und im Herzen einzelner Menschen hat ein Virus oder der Ritus seiner Beherrschung den wahren Gott verdrängt. Auch wenn diese Einzelnen die Mehrheit sind, ist es ein milloinenfacher Irrweg jedes Einzelnen. Und bei den ganz Radikalen, die die Ungeimpften zum Satan machen wollten, konnte Gott nicht verdrängt werden, weil es für ihn auch vorher keinen Platz gab. Aus denen keift die Sinnleere des Gegenspielers Gottes, der sich selbst über Gott erhöhen will.

Albert Schultheis / 01.01.2023

Es wird in den Beiträgen immer wieder vorwurfsvoll auf den Umgang Ratzingers mit den Missbrauchsfällen in seiner Umgebung rekurriert. Ich frage mich indes ernsthaft, wie viel tatsächlich Justiziables ist an diesen Vorwürfen eigentlich “dran”? Es fällt auf, dass es wohl zahlreiche Opfer gab, es aber selten zu tatsächlichen Anklagen oder gar Verurteilungen kam. Lag das daran, dass die Fälle in aller Regel kirchenintern verhandelt wurden? Wieso konnte ein Rechtsstaat das zulassen? Vielleicht weil freiwillig hohe “Schmerzensgelder” gezahlt wurden? Es war dem Zeitgeist geschuldet, dass die Anklagen der Opfer über Missetaten, die zT Jahrzehnte zurücklagen, auf einen gesellschaftlich fruchtbaren Boden fielen, der durch allgemein religionsfeindliche, linke und grüne Aktivisten gedüngt worden war. Dieser Aktivismus hatte sogar linke katholische Theologen befallen. Es wäre wenig verwunderlich, wenn diese Bereitung des Bodens nicht zu einem üppigen Anwachsen von Schadensersatzklagen geführt hätte, denen sich die wachsweichen amtierenden Bischöfe nur allzu gerne unterwarfen. What can go wrong, will go wrong! Wer weiß mehr darüber?

Albert Schultheis / 01.01.2023

“„Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom entstanden, aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms” Und die Kultur Europas findet gerade ihr unvermeidbares Ende in der Begegnung mit dem Islam. Wir beobachten gerade das Verschwinden einer 2500 Jahre alten einzigartigen Kultur. Und es sind die GrünRoten Khmer, die diesen Prozess nur noch beschleunigen.

Klaus Keller / 01.01.2023

Zu den Straftaten von Priestern. Dafür ist die Staatsanwaltschaft zuständig. Ich betrachte Kirchen als Dienstleistungsunternehmen die eine Mitwirkungspflicht bei der Aufklärung von Straftaten ihrer Mitarbeiter haben. Wenn das nicht funktioniert liegt das nicht nur an einem der Akteure. - Man beruft sich ggf auf das Beichtgeheimnis wie Schweizer Banker auf das Bankgeheimnis. Die USA drohten den Schweizer Banken mit dem Entzug der Lizenz für die USA wenn Sie nicht zusammenarbeiten. Die Banken lieferten die gewünschten Daten. Es ging um Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Vermutlich ist auch in diesen Fällen das Geld der Hebel. Mit einer mutlosen Justiz ist das aber nicht zu machen.

Herbert Eisenbeiß / 01.01.2023

Nun… es stimmt zwar, dass Benedikt ein herausragender Theologe war. Nur: wer interessiert sich eigentlich für deren Erkenntnisse? Nur andere Theologen, und das war es. Benedikt XVI. aber war Papst, und für das Amt ist seine theologische Brillanz unwichtig. Als solcher hat er es nicht geschafft, der katholischen Kirche endlich die dringend benötigten Reformimpulse zu verpassen, noch die Kirche mehr in Richtung Moderne zu bewegen. Er stand und steht für eine Art der Kirche, die vielen als veraltet gilt. Mehr noch, er hat versucht viele Reformimpulse des 2. Vatikanischen Konzils zu beenden. Von daher war er der Verfechter einer Kirche, die an Bedürfnissen der meisten Christen vorbei geht und diese einfach ignoriert.

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