Wird Sahra Wagenknecht eine eigene Partei gründen oder es sein lassen? Die einen hoffen es, die anderen fürchten sich davor. Sie selbst hält sich bedeckt, und das wiederum trägt wesentlich zu ihrer medialen Präsenz bei. Also alles nur PR? Nicht unbedingt.
Der Sommer ist vorbei, doch erst jetzt erhebt das traditionell saisonale Ungeheuer von Loch Ness, genannt „Nessie“, sein rätselhaftes Haupt. Das jedenfalls behauptet die Neue Zürcher Zeitung und spielt damit auf die sich verdichtenden Gerüchte und Hinweise an, dass Sahra Wagenknecht sich bald endgültig dafür entscheiden könnte, ihre vage Ankündigung wahrzumachen und eine eigene Partei zu gründen. Ob sie nun „Wagenknecht-Partei“ heißen wird oder nicht – die 54-jährige Linke-Politikerin, die von 2015 bis 2019 Co-Vorsitzende der Bundestagsfraktion ihrer Partei war, glänzende Agitatorin, Bestsellerautorin und Talkshow-Dauergast, ist der schillernde Fixstern einer möglichen Parteigründung.
Alle Spekulationen, ob Hoffnungen oder Befürchtungen, drehen sich um Sahra. In politischen Beliebtheitsrankings steht sie regelmäßig weit oben, ihre intellektuellen wie rhetorischen Fähigkeiten sind unbestritten. Allerdings gilt das auch für ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das sie nicht unbedingt zum Teamwork befähigt. Darin ähnelt sie ihrem Ehemann Oskar Lafontaine, dessen Selbstherrlichkeit legendär ist.
Die Ausgangslage ist günstig
Freilich kommt ihr die aktuelle politische Situation zupass. Die Ampelregierung erreicht in Umfragen nicht einmal mehr 40 Prozent der Wählerstimmen, während die AfD mit über 20 Prozent die Kanzlerpartei SPD überholt hat. In den östlichen Ländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen ist sie in Umfragen schon zur stärksten Partei geworden. Eine historische Zäsur, eine Sensation, die die offensichtliche Wirkungslosigkeit aller „Brandmauern“ belegt und eigentlich ein Weckruf für das rotgrüne Milieu sein müsste sowie Anlass zur gründlichen Selbstkritik. Aber nichts da. Es wird einfach weitergewurschtelt. Die Dimension dieser tektonischen Verschiebung in der Parteienlandschaft wird verdrängt, begleitet von den sich allmählich abnutzenden Alarmrufen, die zum Hintergrundrauschen der täglichen medialen Erregungskurven gehören.
So dümpeln die Grünen, der ideologische Glutkern dieser selbsternannten „Fortschrittskoalition“, knapp unterhalb ihres – angesichts vorheriger Umfragen – damals schon enttäuschenden Bundestagswahlergebnisses von 2021. Und die FDP schrumpft leise vor sich hin, obwohl sie dem linksgrünen Regierungstrend immer wieder mal entgegentritt wie bei dem planwirtschaftlich-labyrinthischen Ungetüm namens Gebäudeenergiegesetz. Sonst aber winkt sie vieles durch, was liberalen Überzeugungen widerspricht.
Die völlig zerstrittene Linkspartei, Wagenknechts alte politische Heimat, versinkt unterdessen in der Bedeutungslosigkeit und schafft so den Raum für eine neue oppositionelle Partei, die die wachsende Unzufriedenheit mit der Regierung auf ihre Mühlen lenken könnte. Genau das gelingt CDU/CSU, der größten Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag, eben nicht: Mehr als 30 Prozent scheinen für sie nicht erreichbar zu sein, obwohl die „Ampel“ jede Menge Angriffsfläche bietet, von der „woken“ Gesellschaftspolitik, die vor lauter diskriminierten Minderheiten keine Mehrheit mehr kennt, bis zur desolaten Energie- und Wirtschaftspolitik, die Deutschland zum Wachstums-Schlusslicht in Europa macht.
Die Merkel-Jahre wirken nach, und auch unter ihrem einstigen Kontrahenten Friedrich Merz findet die CDU nicht zu einem klaren Profil, und sei es dezidiert liberal-konservativ, mit dem man jene Probleme offensiv angehen könnte, die die AfD so stark machen: vor allem die Flüchtlings- und die Wirtschaftskrise, dazu der vorherrschende Drang in weiten Teilen der medial gestützten linksgrünen „Fortschrittsgesellschaft“, den Leuten tagtäglich das richtige Denken beizubringen, neudeutsch: das richtige „Narrativ“.
Grundlagen der Popularität
Genau hier setzt Wagenknecht an. Zum einen attackiert sie die „selbstgerechte Lifestyle-Linke“ mit ihrer wie eine Monstranz vor sich her getragenen diskriminierungsfreien, klimaneutralen und veganen Gender-Sensibilität, zum anderen aber jene soziale Ungerechtigkeit, die eher die weniger gebildeten, nicht-akademischen Schichten betrifft. Es ist die Mischung aus Kritik am privilegierten linksgrünen Milieu und dem Festhalten an ursozialistischen Überzeugungen von Gleichheit und Gerechtigkeit, die offenbar für viele Wähler – manche sprechen von einem Potenzial bis zu 25 Prozent – attraktiv ist, vor allem im Osten der Republik, wo sich die Ressentiments gegen die übergriffigen und belehrenden „Wessis“ hartnäckig halten.
Diese Melange könnte durchaus viele bisherige AfD-Wähler ansprechen, die darüber hinaus Wagenknechts Haltung zum Ukrainekrieg zustimmen: Verhandlungen statt Waffenlieferungen, wobei die Kriegsschuld gerne dem Westen, der NATO und Amerika in die Schuhe geschoben und der Kriegsherr Putin merkwürdig milde behandelt wird. Dass hier auch die westdeutsche Paradefeministin Alice Schwarzer mit von der Partie ist, macht den Begriff der „Querfront“ zwischen links und rechts durchaus plausibel.
Der deutsche Politikwissenschaftler Peter R. Neumann sieht Wagenknechts Parteiprojekt sogar in der Tradition des „Nationalbolschewismus“, die von dem Franzosen George Sorel (1847–1922) begründet wurde, der sich als revolutionärer Sozialist verstand und die bürgerlich-kapitalistische Ordnung westlicher Prägung ablehnte. Neumann wörtlich: „Wagenknecht ist also keine National-Sozialistin, aber ihre neue Partei würde sehr gut an die national-bolschewistische Tradition anknüpfen. Ihre Positionen in der Wirtschaftspolitik sind nach wie vor links, doch in der Gesellschaftspolitik steht sie mittlerweile rechts; Nationalismus ist für sie nicht mehr Gegner, sondern Mittel und Zweck, um Menschen für ihre Art von Sozialismus zu mobilisieren.“
Seit ihrer Jugend war Wagenknecht jedenfalls eine stramme Kommunistin. Kurz vor dem Mauerfall 1989 trat sie als 19-Jährige noch in Erich Honeckers marode „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ (SED) ein. Als die DDR-Staatspartei zerfiel und in die „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) umgetauft wurde, wurde sie ab 1991 zur führenden Repräsentantin der vom Verfassungsschutz als „linksextremistisch“ beobachteten „Kommunistischen Plattform“. 1995 schrieb der Spiegel über sie: „Sahra Wagenknecht, 25, Ulbricht-Verehrerin und Wortführerin der 4000-köpfigen SED-Nostalgiker-Truppe, muss allen Drohungen der reformwilligen Parteiführer zum Trotz nicht mit Parteiausschluss rechnen. Pünktlich zum Parteitag legte die Jung-Stalinistin, derzeit an der Humboldt-Universität im Fachbereich Philosophie eingeschrieben, ihr Erstlingswerk vor. Die orthodoxe Linksprosa (Titel ,Antisozialistische Strategien im Zeitalter der Systemauseinandersetzung') ging selbst gutwilligen PDS-Genossen zu weit.“ Ihre These: Mit Stalins Tod habe der „politisch ideologische Verfall“ des Kommunismus begonnen.
Wandlungen und Volten
Das würde Wagenknecht heute bei „Anne Will“ oder „Sandra Maischberger“ nicht mehr behaupten – zu offensichtlich sind Sozialismus und Kommunismus an sich selbst gescheitert, zu schrecklich waren die Verbrechen der sozialistischen Staatsparteien in der Sowjetunion und ganz Osteuropa.
Aber sie ist wandlungsfähig. Mit ihrem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ wandte sie sich vor zehn Jahren plötzlich Ludwig Erhard und seiner „sozialen Marktwirtschaft“ zu, die sie freilich „zu Ende denken“ wollte – ganz so, als gäbe es im westlichen Kapitalismus der Europäischen Union, in Amerika, Australien und Japan keine Freiheit. Doch immer wieder gelingen ihr solche Volten, die einer strengen intellektuellen Prüfung zwar nicht standhalten, aber einen gewissen Zauber von Aufbruch und Alternative vermitteln.
So verschiebt sie zwar den Schwerpunkt ihrer Argumentation weg vom utopischen Endziel Kommunismus, an das kaum noch jemand glaubt, bleibt aber bei ihrer Aversion gegen das westlich-liberale Lebensmodell, obwohl es auf Millionen Flüchtlinge in aller Welt immer noch eine enorme Anziehungskraft ausübt. Kein Wunder: Die realen Alternativen heißen Saudi-Arabien und Nordkorea, Iran und China, Russland und Kuba, Somalia und Sudan, Tschetschenien und Aserbaidschan. Keine sehr verlockenden Aussichten.
Zweifelhafte Chancen
Doch wie steht es um die Erfolgsaussichten einer möglichen Wagenknecht-Partei? Gregor Gysi, langjähriger Kontrahent seiner Genossin, sieht sie äußerst skeptisch. Zu sehr hänge Wohl und Wehe von ihrer Person ab, zu widersprüchliche Wählergruppen würden angesprochen, vor allem aber: Die Neugründung einer bundesweiten Partei erfordere eine ausgefeilte und schlagkräftige Organisation mit 16 Landesverbänden, kompetenten Mitstreitern und fernsehtauglichen, also vorzeigbaren Persönlichkeiten.
Gysi, lange Zeit die Ikone der Linkspartei, kennt sich da ein bisschen aus: „Außerdem dürfen Sie eines nicht vergessen: Wer als Ausgegrenzte eine Partei gründet, für die es keine gesellschaftliche Stimmung gibt wie einst für die AfD, sammelt viele andere Ausgegrenzte ein. Herzlichen Glückwunsch, die kenne ich noch aus der Zeit, als wir die PDS in den Westen erweitern wollten.“ Will sagen: Auch Spinner und Querulanten werden sich angezogen fühlen.
Unvergessen ist das grandiose Scheitern ihrer Sammlungsbewegung „Aufstehen“, die vor ein paar Jahren schon kurze Zeit nach der spektakulären Gründungserklärung in sich zusammensackte und spurlos verschwand. Die Neue Zürcher Zeitung verweist auf das womöglich entscheidende Problem einer Wagenknecht-Partei: Die AfD werde gerne als rein rechte politische Kraft beschrieben. „Aber sie spricht schon lange sehr erfolgreich auch linke Wähler an, vor allem im Osten. Bei der jüngsten Bundestagswahl etwa verlor die Partei an alle anderen, nur von der Linken liefen in der Summe rund 90.000 Wähler zu ihr über. Viele der Positionen, die Wagenknecht vertritt, von der Migrations- bis zur Identitätspolitik, vertritt auch die AfD.“
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, sagte einst Michail Gorbatschow. Das könnte nun auch für Sahra Wagenknecht zutreffen.
Doch wie immer die Sache ausgeht: Auch ihr nächstes Buch wird ein Bestseller sein.
Zuerst erschienen in der Wochenzeitung Preußische Allgemeine.
Sie wollen mehr von Broder und Mohr lesen?
„Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik“, das neue Buch von Henryk M. Broder und Reinhard Mohr, können Sie hier im Achgut Shop bestellen.
Reinhard Mohr, geb, 1955, schrieb als Journalist u.a. für den Pflasterstrand, die taz, die FAZ und den stern. Von 1996 bis 2004 war er Kulturredakteur beim Spiegel.