Bernd Hoenig, Gastautor / 11.02.2024 / 14:00 / Foto: Kalandrakas / 1 / Seite ausdrucken

Der japanische homo religiosus

Shinto ist ganz selbstverständlich ein Teil des hiesigen Lebens, ohne dass es große Debatten über Sinnhaftigkeit, Glaubensinhalte oder Institutionen gäbe.

"Es gibt nur sehr wenige Menschen, Japaner oder Ausländer, die den Shinto gründlich verstehen und in der Lage sind, ihn im Detail zu erklären". (William P. Woodard, Preface – Shinto, The Kami Way, Sokyo Ono)

Homo religiosus ist wohl das älteste kulturelle Artefakt, das sicherlich jedem von uns in der ein oder anderen Form noch innewohnt und mit der Ausbreitung der Menschheit in unterschiedlichste Erdteile seine spezifischen Entfaltungen erfuhr. Die wichtigste alte Religion Japans, sein Shinto, ist ganz selbstverständlich ein Teil des hiesigen Lebens, ohne dass es große Debatten über Sinnhaftigkeit, Glaubensinhalte oder Institutionen gäbe – ebenso wenig übrigens wie über die göttliche Abkunft des Tennohauses.

Einem Nichtjapaner Shintoismus nahezubringen ist nun schwierig möglich – ihre seit vielen hunderten, gar tausenden von Jahren den Bewohnern Japans tradierte Religion ist stark durchmischt von alten Natur- und Ahnenkulten. Viele lokale Shinto-Rituale sind wahrscheinlich gerade einmal verständlich für diejenigen, die mit ihrem Mythenschatz darum aufwuchsen. Schon in den frühen Schriften Japans (Nihon-shoki; Kojiki, 8. Jhd.) verwirren ihre Erzähler durch eine Fülle unterschiedlichster Sagen aus ihrer Götterwelt. Shinto-Götter erscheinen kaum eifersüchtig aufeinander und lokale Schreine tragen viel zum Zusammenhalt ihrer Gemeinden bei. Passagerituale aufwachsender Kinder (7-5-3 七五三), die noch aus einer Zeit stammen, in welcher die Kindersterblichkeit enorm hoch war, sowie Hochzeiten werden dort neben zahlreichen anderen Festivitäten rund ums Jahr zelebriert. So manche Aufführung an naturnahen Schreinen gleicht in ihrer expressiven Kostümierung, mit altertümlichen und selbst den meisten Japanern unverständlichen Texten, großen Bühnenwerken aus Nō- und Kabuki-Kunstwelt.

Faszinierend erscheint ihre Ekstase bei Umzügen (O’Mikoshi/おみこし), in denen ihr Heiliges (gewöhnlich wissen nur die lokalen Priester und ihre Eingeweihten, was dies jeweils konkret ist) in sehr kostbar ausgestatteten, tragbaren Schreinen unter viel Anfeuerung und Jubel durch ihre Gemeinden getragen wird. Ein solcher Ausbruch an religiöser Lebensfreude ist kaum vorstellbar in deutschen Kirchengemeinden, die mittlerweile „gendergerechte“ Predigten zu „Klimaschutz“ und ähnlich pseudoreligiöse Themen über sich ergehen lassen, deren Enthusiasmus darin gipfeln mag, „die Bewahrung der Schöpfung“ (Protestantin Merkel) mithilfe fragwürdiger „Klimaabkommen“ (Paris 2015) zu beschwören.

Exotische Religionen in "schwärmerischem Ansehen"

Traditionelle Religionen gelten heutigentags in Deutschland, und besonders im durch sozialistische Erziehung atheistisch stärker geprägten Osten, als schlecht beleumdet – Religion sei „Opium des Volkes“, meinte einst der Sohn eines zum Protestantismus konvertierten Anwalts und Enkel eines Rabbiners, Karl Marx, der sich kaum hätte träumen lassen, wie stark seine Landsleute später als Nationalsozialisten oder Kommunisten aus Mystik, Gnosis und christlich religiöser Symbolik schöpften, obschon auch er mit seinen Schriften zu Kirchenkritik und gegen das Judentum einiges zur ablehnenden Haltung gegen die klassischen Religionen, welche die Kultur des Abendlandes mitgestalteten, beitrug.

 „Exotische“ Religionen oder sogenannte heidnische Gebräuche, von deren Ursprüngen die Leute so gut wie nichts wissen, stehen dagegen in einem meines Erachtens unverhältnismäßig schwärmerischen Ansehen, was sicherlich aus ihrer Unkenntnis heraus zu erklären ist. Dass zum Beispiel ausgerechnet der Buddhismus in Deutschland als „sanft, friedfertig, tolerant“ gilt, sollte jeden stutzig machen, der in den zugrunde liegenden, gewalttriefenden Epen aus Indien schmökert und die Realität buddhistisch geprägter Staaten wie Sri Lanka, Thailand, Myanmar, Laos oder Kambodscha dagegen hält.

 Muslime, Christen oder Juden machen in Japan lange nicht so ein Aufhebens um sich wie sie’s in Deutschland tun; die Angehörigen ihres Glaubens sind hier vergleichsweise wenige und ihre Gebets- und Versammlungshäuser erregen kaum Aufmerksamkeit – anders als speziell jüdische Einrichtungen in Deutschland, die dort offenbar rund um die Uhr bewacht werden müssen, beziehungsweise Moscheen, von denen einige verfassungsrechtlich überwacht werden.

Auch der Besuch des Papstes, der inzwischen selbst Klimaforscher und -aktivisten (die in Japan nichts zu melden haben sowie unterhalb der Wahrnehmungsschwelle existieren) wie Hans Joachim Schellnhuber und Luisa Neubauer zu gegenseitiger Zusammenarbeit oder Werbung empfängt, wurde hierzulande 2019 lediglich mit Kurzmeldungen erwähnt. Dass Letztere gar unter evangelischem Beifall eine christliche Predigt abhielt, kann von hier aus nur mit Spott bedacht werden.

Fremd bis hin zur Skurrilität werden ohnehin von den meisten hier abendländisch-christliche Auffassungen von Inkarnation Christi, jungfräuliche Geburt, Sakrament und anderem mehr zur Kenntnis genommen. Wer als Gläubiger bejaht, dass Mose von Gott die Gebote am Sinai empfing, sollte auch akzeptieren, dass dort möglicherweise schon die Midianiter davor ihrem Vulkangotte huldigten und die Japaner am anderen Ende der Welt einen dominanten Vulkankegel heiligen (Fujisan).

Der Shinto dagegen entfaltete sich in Japan allein.

Shinto ist seit jeher Teil des japanischen Alltagslebens nahezu aller Einwohner, buddhistische Tempel existieren gleichberechtigt neben Shinto-Schreinen und unterschiedliche religiöse Strömungen konkurrieren friedvoll miteinander. Es gibt auch diverse Sektenbewegungen hier und einige davon könnten sich wohl als existenz- gar lebensbedrohlich erweisen, wie es die Mordanschläge der Aum-Sekte oder Erklärungen des Abe-Attentäters nahelegen. Gewalttätige, gar mordend religiöse Fanatiker werden unnachsichtig bestraft, wie beispielsweise ein Dutzend gefasste Mitglieder jener Aum-Sekte mitsamt ihrem Gründer, die selbst teils mehr als 20 Jahre nach ihren mörderischen Verbrechen (1995 Giftgasanschlag), auch nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel gehenkt worden sind – ja, in Japan gilt noch die Todesstrafe für die schlimmsten Mordtaten, wurde aber bis zu deren Untat und auch sonst üblicherweise nicht mehr verhängt.

„Allahu Akbar, Juden ins Gas“ – Demonstranten wie in Deutschland sind in Japan sehr unwahrscheinlich und dass einheimische Frauen als „Ungläubige, Huren“ beschimpft, im Schutze der Dunkelheit, gar auf öffentlichen Plätzen sexuell primitiv bedrängt oder vergewaltigt werden, wäre hier nur schwer vorstellbar – woran das liegen mag? Hochentwickelte Zivilisation und eine konsequente Immigrationspolitik, deren Scheitern in Deutschland mitsamt ihren missratenen Toleranzvorstellungen aus JP sehr genau registriert wird und ich als Zuwanderer schätze diese Lebensart hierzulande sehr, dank derer Religiosität ebenso wie sexuelle Ausrichtung Privatangelegenheiten sind und mir die Leute mit quasi Zen buddhistischer Entspanntheit so wenig auf den Senkel gehen, wie ich ihnen.   

 Buddhismus kam, wie ursprünglich die japanischen Kanji-Schriftzeichen, über China und Korea ins Land, der Shinto dagegen entstand und entfaltete sich in Japan allein. Es ist kein Gründer bekannt und es gibt kein Credo, keine heiligen Schriften; Japaner nehmen ihren Shinto recht pragmatisch, besuchen verschiedene Schreine nicht nur zu Festtagen, sondern auch mal nebenbei, wenn sie am Wege liegen. Für persönliche Fürbitten werden durchaus unterschiedliche Schreine mit verschiedenen Göttern in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich um Hilfe gebeten, nach dem Motto: Einer mehr kann nicht schaden.

Das Gesuchte finden – und den Shinto gründlich missverstehen

Inwieweit Gläubigkeit in Japan im Unterschied zu Zeit und Geld eine Rolle spielt, vermag ich nicht zu beurteilen, doch die Traditionen aus dem Shinto erscheinen in diesem Land enorm wichtig und manchmal von eigenwilligen Ritualen begleitet. Einmal beispielsweise beobachtete ich zwei sehr junge Frauen, exzentrisch geschminkt, mit gefärbten Haaren in bunter Anime-Kleidung, an einem Inari-Schrein nahe Inuyama-Castle in einem rituellen Reinigungsbecken ihre Geldscheine waschen – Inari, sein Symbol ist der Fuchs, ist von alters her zuständig für gute Ernten, Fruchtbarkeit; er wird heutigentags ganz allgemein für wachsenden Wohlstand verehrt und diese Mädel baten beziehungsweise hofften hier offenbar um finanzielles Glück und Geldvermehrung. Shintoismus ist offensichtlich durch alle Generationen und über alle Schichten hinweg eng mit japanischem Alltag verwoben; eine prägnant gute Einführung dazu bietet Lokowandt, der hierzu passend schrieb:

 Der vom Christentum geprägte Abendländer wird hartnäckig und fast zwangsläufig nach etwas suchen, was es nicht gibt – und wenn er dann nichts findet, erklärt er den Shinto für undurchschaubar. Letzteres trifft allerdings nur dann zu, wenn er Glück hat. Hat er Pech, so wird er das Gesuchte finden – und den Shinto gründlich missverstehen.

Es existiert eine hierarchische Abstufung der Shinto-Schreine, besonders seit den Zeiten der Meiji-Restauration (ab 1868), wo sie auch mit politischer Bedeutung aufgeladen wurden, wie es sich bis heute an Yasukuni-Jinja zeigt; doch über allen Schreinen steht ein besonders heiliger – Ise-Daijingū, in welchem die Sonnengöttin, die Ahnherrin des Tennohauses, verehrt wird. An allen größeren Schreinen ist das Priesteramt erblich und dient auch, vergleichbar den buddhistischen Tempeln, einer nicht geringen Geschäftstätigkeit mit erheblichem Umsatz. Verschiedene Kami (神) werden in den Schreinen verehrt, wobei diese Bezeichnung nicht nur Göttern und Geistern vorbehalten ist, sondern beispielsweise auch den im Dienste des Staates Gefallenen seit der Meiji-Reform im Yasukuni-Schrein oder verstorbenen Angehörigen.

Spirituellen Reinigung wenn man in die Götterwelt eintritt

 Letztendlich ist Shintoismus in seiner Fülle zu erfassen für Nichtjapaner fast noch schwieriger als ihre Sprache zu erlernen und eigentlich müsste man in diese Kultur hineingeboren werden, um ganz mit ihr zu verschmelzen, beziehungsweise ein Teil von ihr zu werden – was mich auf Honshu lebenden Gaijin/外人 (jmd. von außen) nicht davon abhält, immer mal wieder bezaubernde Aspekte daraus zu beleuchten, die ich als ästhetisch herausragend schätze, wie beispielsweise die zu vielen wunderschönen Wahrzeichen gewordenen Shinto-Schreine Japans mit ihren typischen Eingangstoren.

Diese Torii gelten als heilige Zwischentore, welche das Profane Außen zum Sakralen japanischer Schreine hin markieren. Sie gehören also in verschiedener Anzahl und Anordnung zu jedem Schrein.  Meist in weithin leuchtendem Zinnoberrot gehalten, sind besonders die üblicherweise von Wasser umgebenen ‚Floating Torii‘, von denen es trotz der schätzungsweise 85.000 Schreine nicht allzu viele gibt, zu lokalen Sinnbildern geworden. Durch- oder Überschreiten des Wassers vor ihren Torii beziehungsweise die rituelle Waschung in den vor allen Schreinen mit frisch fließendem Wasser versehenen Becken, dient einer spirituellen Reinigung wenn man in die Gefilde ihrer Götterwelt der Schreine eintritt – der Gast sollte nicht durch die Mitte der Torii gehen, da dieser Mittelweg den Göttern vorbehalten sei (man frage nicht, wann oder warum denn die im Schrein ansässigen Gottheiten diesen reservierten Pfad benutzten). Besucher betreten üblicherweise nicht das Schreininnere, wenn nicht zu einer bestimmten Zeremonie, die etwas teurer wird, wie beispielsweise unser Hochzeitsritual, das von einem Priester mit zwei Gehilfen abgehalten wurde.

Nach Durchschreiten der Torii, Waschen der Hände (zusätzlich Ausspülen des Mundes),  bleiben die Leute vor dem Schreinhauptgebäude stehen, werfen einige Münzen (5er, 50er, 100er sind üblich; jeder ist aber frei, auch Geldscheine durch die Münzspalten hindurchzuschieben) in die dortige Kiste, läuten 2-3 Mal am Seil der Glocke (wenn vorhanden), verbeugen sich zweimal, halten stumm die Hände vor der Brust und beten zu den Göttern, dann verbeugen sie sich nochmals zum Abschied und kaufen beim Verlassen vielleicht noch das eine oder andere Schreinsouvenir.

Schachtel  Pralinen, die von nahezu allen begrüßt wird

Viele Schreine wurden an Plätzen errichtet, die vor Urzeiten schon als heilige Orte galten, manchmal auch gilt die lokale Verehrung Flussgöttern wie in Arashiyama oder einem heiligen Artefakt früherer Zeiten, wie sie dem Kopf einer alten Statue aus der Tokugawa Ära  bei uns in Atami/Yugawara (Fuku senji) entgegengebracht wird, und so mancher Schrein ist inzwischen reichlich umstellt von Torii, welche von den verschiedensten Geldgebern, wohl auch zu Werbezwecken, gesponsert wurden. Einige Schreingebäude wurden ganz ohne Nägel oder Schrauben errichtet und halten fest zusammen mittels Holzdübeln und ineinander greifenden Balken. Ihre wunderschön komponierte Farbgestaltung setzt diesen faszinierenden Bauten dann noch das Sahnehäubchen auf.

Summa summarum: Religiosität offenbart in Japan eine Schachtel voller Pralinen, die freudig von nahezu allen begrüßt wird, vielen mundet, aber nicht zur Sättigung gedacht ist, während sie in Deutschland eher einem alt gewordenen, mit modernen Gewürzen verdorbenem Salat ähnelt, der hier oder da delikate Würstchen enthält und achtlos von vielen inzwischen ignoriert wird.

Bernd Hoenig ist Religionswissenschaftler, Jahrgang 1966, lebte in Berlin, traf seine heutige Ehefrau Mayu 2016 in Deutschland und ist 2017 nach Japan ausgewandert. Er bietet am Yoshihama Beach mit seiner Firma MitteJapan (mittejapan.com) Yogaklassen an. Dieser Beitrag erschien zuerst in seinem Blog Japoneseliberty. Dort beleuchtet er bevorzugt nichtalltägliche Themen, beurteilt aus der liberalen Sicht eines abendländisch freien Geistes.

Foto: Kalandrakas CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

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Stefan Hofmeister / 11.02.2024

Bei den Münzen empfiehlt es sich, die Fünfer zu nehmen. Fünf Yen spricht man “Go En” und schreibt man “五円”, bei derselben Aussprache kann man es jedoch auch “ご縁” schreiben, was dann “Karma”, “Schicksal”, “Beziehung” usw. bedeutet. Das wissen jedoch auch die meisten Japaner nicht ...

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