Martin Lewis, Gastautor / 06.12.2018 / 10:00 / Foto: Pixabay / 1 / Seite ausdrucken

Die Andersgrünen: Der Mythos vom edlen Wilden (3)

Von Martin Lewis. 

Die in der vergangenen Folge erzählte Episode mit den Marxisten steigerte nur meinen Respekt für Nietschmann und seine Bemühungen, die Kulturen und Gemeinschaften der indigenen Völker zu dokumentieren und zu bewahren. Ein Mann war bereit, sein Leben für das zu riskieren, woran er – und auch ich – glaubte. So begab ich mich im folgenden Jahr auf die Philippinen, um dort mit den Feldforschungen für meine Dissertation zu beginnen. Ich studierte das komplexe, multiethnische Dorf Buguias in den Kordilleren im Norden der Insel Luzon, wo die örtlichen Bauern einige der wohl spektakulärsten Terrassen der Welt bewirtschafteten. Es war eine Reise, die meine Ansichten, meine Ideologie und meine Karriere nachhaltig verändern sollte.

Die Trennlinie zwischen Kulturgeographie und Ökotourismus mit schmalem Budget kann schon ziemlich schmal sein. Ich entdeckte Nordluzon während einer fünfmonatigen Tour durch Südostasien im Sommer vor Beginn meines Aufbaustudiums. Die Gegend war großartig, die Leute waren freundlich und ihre Kultur faszinierend. Die Landschaft präsentierte sich auch als intellektuelles Mysterium, das mich reizte: Warum sollte das schroffe Bergland so meisterhaft geformt werden, während das umgebende Tiefland mit relativ fruchtbaren Böden nur dünn besiedelt war und dort ineffiziente landwirtschaftliche Praktiken vorherrschten?

Als ich mit dem Aufbaustudium begann, las ich die Fachliteratur über das Bergland Nordluzons, wodurch das Mysterium geklärt wurde. Die Forderungen der spanischen Kolonisatoren nach Steuern und Bekehrung zum Christentum führten zu einem Exodus ins Hochland. Konfrontiert mit der Aussicht, ihre traditionelle Lebensart aufgeben zu müssen, flohen die Einwohner in die Berge und unternahmen dort unglaubliche Anstrengungen, Terrassen an steilen Abhängen zu bauen. Dort konnten sie weiterhin ihre Ahnen verehren und sich ohne koloniale Einmischung oder Steuerverpflichtungen um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Doch blieben noch einige Rätsel, da die unterschiedlichen ethnischen Gruppen auf sehr unterschiedliche Weise auf die Herausforderungen ihrer rauen Umwelt reagierten. Um mehr zu erfahren, wählte ich für meine weiteren Forschungen ein Dorf am Kreuzungspunkt dreier Sprachgruppen.

Feldforschung auf den Philippinen

Was ich im Folgejahr bei meinen Feldstudien im Dorf Buguias entdeckte, war von meinen Vorstellungen weit entfernt. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die wirtschaftliche Grundlage dieser Gegend komplett verändert. Die Subsistenzlandwirtschaft war verschwunden, als die Dorfbewohner entdeckten, dass sie ihre ökonomische Lage verbessern konnten, indem sie Gemüse aus den gemäßigten Breiten für den landesweiten Markt anbauten. Die Nachfrage nach Kohl, Kartoffeln und Karotten ist in der Nachkriegszeit gestiegen, aber solche Produkte können im heißen und schwülen Tiefland der Philippinen nicht profitabel angebaut werden. Im kühlen Hochland dagegen gedeihen sie prächtig. Zur Zeit meines Eintreffens widmete sich fast jeder im Dorf gänzlich dem profitorientierten Gemüseanbau. Das Einkommen aus dem Gemüseanbau wurde genutzt, um Reis, Brot, Dosenfisch und weitere Lebensmittel aus anderen Teilen des Landes zu besorgen.

Die traditionellen Praktiken, für deren Erhalt die Leute so hart gekämpft hatten, änderten sich mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten. Jetzt wurde die animistische Religion, die von ihren Anhängern stolz als Heidentum (oder wie in der Formulierung eines Stammesältesten: „unser heidnisches Buguias-System“) bezeichnet wurde, nicht mehr durch die Subsistenzwirtschaft gestützt, sondern durch moderne Intensivlandwirtschaft. Aufwändige Festmahle, eine alte indigene Praxis, waren immer noch der Höhepunkt des gesellschaftlichen und religiösen Lebens. Doch nun hatten sie sich den wirtschaftlichen Veränderungen angepasst und neue Funktionen erhalten, wie die ökonomische Umverteilung sowie den sozialen Ausgleich in einer zunehmend kommerziellen und transaktionsbasierten Wirtschaft.

Entschlossen, einige Leute zu finden, die sich dem Wandel widersetzten und den alten Praktiken der Selbstversorgung treu geblieben waren, verbrachte ich einen ganzen Tag damit, zu einem entfernten Weiler zu traben. Dort wollte ich eine alte Frau interviewen, damit sie mir detaillierte Informationen zur alten Zeit preisgebe. Sie lehnte ab und sagte mir lediglich (in ihrer Muttersprache Kankana-ey): „Das Leben war schrecklich. Wir aßen nur Süßkartoffeln.“ Viele weitere Interviews bestätigten ihre Geschichte. Mit Ausnahme der kleinen Dorfelite hatten die Leute aus Buguias im frühen 20. Jahrhundert fast nie Reis probiert und sie bekamen nur dann Fleisch und Fett, wenn die rituellen Festmahle abgehalten wurden. Praktisch jeder, den ich interviewte, war der Auffassung, dass das neue kommerzielle System der alten Subsistenzwirtschaft vor dem Zweiten Weltkrieg bei weitem überlegen war. Sogar in den entlegensten, unzugänglichsten Weilern warteten die Leute darauf, dass endlich Waldwege planiert würden, damit auch sie mit dem Gemüseanbau beginnen konnten.

Lesen Sie in der nächsten Folge Morgen: Die Dorfelite verleiht auch Geld

Martin Lewis ist Dozent für Geschichte an der Stanford University. Bei dieser Serie handelt es sich um eine Übersetzung eines Artikels bei The Breakthrough.

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Foto: Pixabay

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Andreas Rühl / 06.12.2018

Zu den großen Mythen der Zivilisationskritik in der westlichen Welt gehört schon immer die unzutreffende Behauptung, alle sogenannten “Ur-Völker” seien zum Christentum zwangsmissioniert worden. Das manche Gruppen lieber “beim Alten” blieben, was ihren magischen Ur-glauben angeht, ist wohl richtig, aber in den meisten Fällen zogen es die “Ureinwohner” freiwillig vor, Christen zu werden. Ein schönes Beispiel ist ausgerechnet das wunderumwebte Tahiti. Und ebenso freiwillig gaben sie ihren alten, ineffizienten Wirtschaftsweisen auf, wenn sie darin eine Chance sahen, ihre Lebensumstände zu verbessern. Wen wundert es? Dieselbe Entwicklung haben auch die “Ureinwohner” Europas durchlaufen. Wenn es ein Phänomen gibt, das alle Menschen weltweit eint, ist es nämlich das Streben nach Wohlstand - und damit Freiheit. Diese Freiheit hat auch einen anderen Namen: Geld. Das Streben nach Wohlstand, der Wunsch nach Freiheit, die das Geld verleiht, über das der einzelne nach Gutdünken verfügen kann, mithin der Dreiklang des Kapitalismus, entspricht als einzige Wirtschaftsform der menschlichen Natur - alles andere ist Hirngespinst, Theorie, Ideologie und führt in die Verarmung. Insoweit hatte Brecht, ohne es zu wissen, so was von Recht, wenn er meinte: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Eben.

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