Zweimal politisches Panik-Poker. Der eine Zocker, Rishi Sunak, hat aus Verzweiflung alles auf eine Karte gesetzt und ist jetzt weg vom Fenster. Der andere, Emmanuel Macron, hat mehr erreicht als ihm lieb sein kann.
Der Brite Sunak wusste wohl, dass sein Bluff scheitern würde. Er saß ja mit leeren Händen am Tisch. Der Franzose Macron hat die rechten Geister, die er am meisten fürchtete, erst einmal vertrieben. Aber wie wird er die linken Geister, die er so nicht rufen wollte, wieder los. Im Vergleich erscheint Deutschland fast als ein Hort der Langeweile.
Eigentlich wollte Macron seinen Mitte-Verein vor dem Angriff des Nationalen Bündnisses retten, um seine letzten drei Jahre in gemütlicher Partnerschaft mit seinem Parlament zu Ende zu bringen. Aber was hat er sich eingehandelt, nur weil er sich von den Europawahlen ohne überwältigende Not zu seinem Panik-Schritt verleiten ließ! Europas Parlament wählt man nun mal nicht mit dem bitterem Ernst, den sich die Berufseuropäer wünschen. Da kann es schon mal passieren, dass Marine Le Pens Nationale Vereinigung eine Mehrheit erzielt, weil man damit dem ungeliebten Präsidenten schlaflose Nächte zu bereiten kann.
Aber daheim, wenn es um Frankreich geht, machen die Wähler dann doch ernst. Und im eigenen Land ärgern die Franzosen ihren Präsidenten auf andere Weise. Indem sie zwar das tun, was er wollte, aber nicht so wie er es gerne gehabt hätte. Le Pen nur noch Nummer drei im Parlament - da muss sich der Präsident im Prinzip freuen. Aber das Lachen dürfte ihm im Halse stecken bleiben. Denn die Linken haben Macron nicht nur als Verzierung im Kampf gegen die gefürchtete Rechte gedient. Sie haben Macrons Mannschaft kurzerhand auf den zweiten Platz verwiesen und sich als „Neue Volksfront“ an die Spitze des Parlaments gespielt. Die drohende Kohabitation, die der Präsident mit rechts vermeiden wollte, muss er nun mit einem linken Partner versuchen, der ihm kaum besser liegt. In Frankreich hat zwar der Präsident das ganz große Sagen. Aber der Regierungschef ist keineswegs nur ein Handlanger. Schon gar nicht dann, wenn hinter ihm eine andere Mannschaft steht als die des Präsidenten. Im Poker nennt man das: Er hat sich verzockt. Oder geht sein Bluff doch noch auf?
Frankreichs Linke, von Quasi-Kommunisten über Sozialisten bis hin zu den Grünen, sind eigentlich ein zerstrittener Haufen. Sie haben sich für diese Wahl zusammengerauft. Aber werden sie die improvisierte Volksfront bleiben, wenn es darum geht, wer den Regierungschef und die anderen wichtigen Posten stellt? Das können noch spannende Wochen oder gar Monate werden, bis eine neue Regierung steht. Wie dringend man sie braucht ist eine andere Frage. Belgien hat vor einiger Zeit ja gezeigt, dass man ohne lästige Regierung wunderbar leben kann.
Durchregieren, aber wohin?
Derweil müssen in England – ebenfalls nach der Neuwahl-Panik-Attacke des Premierministers - die Konservativen ums politische Überleben kämpfen. Und von den Oppositionsbänken aus zuschauen, wie Keir Starmer mit seiner Labour-Partei das Ruder herumwirft. Naja, vorsichtig umlegt.
Anders als in Frankreich herrschen in England nun so klare Verhältnisse wie schon lange mehr. Das kuriose englische Wahlsystem hat dafür gesorgt, dass die Labour-Partei mit dreißig Prozent der Stimmen jetzt sechzig Prozent der Abgeordnetenplätze belegt. Ganze 412. Damit könnten sie das ziemlich kleine Unterhaus fast allein füllen. Keir Starmer kann, was sich Angela Merkel immer gewünscht hat: Er kann durchregieren. Aber womit? Ein Geld hat er keines, wie man in Bayern sagt. Seine Ambitionen sind darum maßvoll. Von einer linken Revolution, die viele Franzosen derzeit – verfrüht - bejubeln, kann in England nicht die Rede sein. Auf der Insel wird es einen sozialdemokratischen Umbau unter Mangelbedingungen geben.
Die Haupthoffnung ist, dass das Königreich jetzt erst einmal professioneller regiert wird als in den vergangenen Jahren. Die Konservativen waren zuletzt alles anders als konservativ, sondern eher eine Villa Kunterbunt voller Streithähne und Streithennen. Und dieser Streit wird erst einmal weiter gehen. Es muss dringend geklärt werden, wer die dezimierte Fraktion (von satten 365 auf blasse 120) aus der Misere herausführt. Und wie: Mehr rechts im Stile des Lautsprechers Nigel Farage, der mit seiner Reform-Partei zum Abstieg der Konservativen beigetragen hat. Oder mehr mittig a la CDU, was eher zur Tradition der Torys gehört.
Und Keir Starmer? So groß seine Mehrheit im Unterhaus ist, so dünn ist seine Mehrheit im Land. Da kann sich schnell etwas verschieben, wenn er die Landsleute enttäuscht, die ihm diesmal aus Protest gegen die chaotischen Konservativen die Stimme gegeben haben.
Es kann die Zeit kommen, in der er sich wünscht, es so gemütlich zu haben, wie das Dreierbündnis in Berlin. Das liegt sich zwar ständig in den Haaren, rauft sich aber immer wieder zusammen. Wie jetzt beim Haushalt. Es ist eben alles relativ. Was in Deutschland als Kuddelmuddel gilt, kann von außen betrachtet als ein Hort der Stabilität wirken. Unsere raufenden Dreier werden aneinander gekettet ihre Zeit bis zum Herbst nächsten Jahres durchziehen. Und danach wird es mit ein, zwei anderen Darstellern ähnlich weitergehen.
Davon kann Emmanuel Macron derzeit nur träumen. Und Keir Starmer hat gar keine Zeit zu träumen. Den Briten geht es nicht gut, ihre sprichwörtliche Geduld dürfte schnell aufgebraucht sein. Seine beste Hoffnung: eine behutsame, aber für die Wirtschaft förderliche Annäherung an Europa. Seinen neuen Außenminister David Lammy hat er gleich nach der Wahl zu Annalena Baerbock nach Berlin geschickt.
Rainer Bonhorst, geboren 1942 in Nürnberg, arbeitete als Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in London und Washington. Von 1994 bis 2009 war er Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung.