Der Fotograf Efraim Habermann ist mit 90 gestorben. Ein kultivierter Herr, der noch auf Aussehen und Umgangsformen achtete, das Haus nie ohne Krawatte und Einstecktuch verließ. Statt eines Nachrufs hier ein WELT-Artikel über ihn, aus dem Corona-Jahr 2020.
Früher, also bevor es mit Corona losging, kam Efraim Habermann jeden Tag in das Literatur-Café in der Fasanenstraße, meistens am späten Nachmittag, so zwischen fünf und sechs Uhr, immer perfekt gekleidet, Dreiteiler, Krawatte, Einstecktuch und Halbschuhe, die so gepflegt aussahen, als hätte er sie eben in einem der besseren Läden am Kurfürstendamm gekauft und gleich angezogen. Und wenn er mal nicht kam oder sich verspätete, dann rief Jarek, der mit seiner Frau Ida das Literatur-Café betreibt, bei Efraim Habermann an und fragte, ob alles in Ordnung wäre, worauf dieser ins Telefon schrie: „Was soll denn nicht in Ordnung sein?“
Ja, bis vor Kurzem, als Corona nur eine Biermarke unter vielen war, konnte sich niemand vorstellen, dass sehr bald nichts mehr in Ordnung sein würde. Nicht einmal Efraim Habermann, trotz seiner 87 Jahre und der vielen Erfahrungen, die er in seinem Leben gemacht hatte.
Am 19. Juni 1933 in Berlin als erstes Kind von Gerhard und Ilse Habermann geboren, besuchte Efraim, der damals noch Fredy hieß, kurz die jüdische Volksschule, bis er mit seinen Eltern im November 1939, wenige Wochen nach dem Beginn des Krieges, am Anhalter Bahnhof in einen Zug nach Triest stieg, wo die Familie an Bord eines Dampfers namens „Galileo Galilei“ ging, der auf Haifa im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina Kurs nahm.
Rückkehr nach Berlin nach 18 Jahren
An die Einzelheiten der vier Tage langen Überfahrt kann Efraim sich nicht erinnern. Auch nicht, wie sie von Haifa nach Jerusalem gekommen sind, wo der Vater eine kleine Wohnung gemietet hatte. Irgendwie ergab sich alles. Wobei den Habermanns zugutekam, dass Gerhard Habermann, nachdem sein Schuhgeschäft in der Friedrichstraße „arisiert“ wurde, im „Palästina-Amt“ der „Jewish Agency“ in der Meinekestraße gearbeitet hatte, die den Juden bei der Ausreise half und auch dabei, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden.
Efraim ging zur Schule, diente in der israelischen Armee und lernte einen ausgesprochen praktischen Beruf – technischer Zeichner. Genau 18 Jahre nach seiner Ankunft in Haifa, im November 1957, kehrte er nach Berlin zurück. Warum? Er wisse es nicht mehr und überhaupt, er rede „nicht gern über die Vergangenheit“; mehr als das, was einmal gewesen ist, interessiere ihn das, was heute passiert, zum Beispiel die englische Snooker-Meisterschaft, die im Eurosport-Kanal live übertragen würde. „Spannender als Fußball!“
Also wechseln wir das Thema und reden darüber, wie er als technischer Zeichner in der Senatsverwaltung für Bauen und Wohnen zum Wiederaufbau von Berlin beigetragen und es geschafft hat, ein über die Grenzen der Stadt bekannter Fotograf zu werden, „Kunstfotograf“, darauf legt Efraim großen Wert, das Schnelle und Sensationelle sei nie seine Sache gewesen, sondern Natur, Menschen – am liebsten Frauen – und stumme Objekte, vom aufragenden Eiffelturm bis zum laufenden Wasserhahn, immer nur schwarz-weiß. „Farbe, das ist etwas für Amateure.“
Kultur stehe auf drei Säulen: Humanität, Ethik und Ästhetik
Letztes Jahr widmete ihm „brennpunkt – Magazin für Fotografie“ eine Sonderausgabe auf Hochglanzpapier mit über einhundert seiner Fotografien, alle analog aufgenommen, zuerst mit einer gebrauchten, in England hergestellten Coronet Camera, später mit einer Leica M5, die heute zu Liebhaberpreisen gehandelt wird.
Er weiß noch genau, wann und wo sein erstes Bild erschienen ist, auf der Fotoseite „Weltspiegel“ des Berliner Tagesspiegels, am 11. November 1968. Es zeigte die Matthäus-Kirche auf dem Berliner Kulturforum als Spiegelung in der Glasfront der Neuen Nationalgalerie. Die Aufnahme war dem Tagesspiegel 25 DM wert.
Efraim Habermann drückt seine Dunhill-Zigarette in einem kleinen Aschenbecher aus, tippt mit dem Zeigefinger der linken Hand auf seine Longines-Uhr, die er am rechten Handgelenk trägt, und sagt: „Zeit für das Abendessen.“ Er steht auf, geht aus seinem picobello aufgeräumten Wohnzimmer in das Schlafzimmer, holt eine Krawatte und bindet sie um. Nie käme er auf die Idee, seine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss eines „Gartenhauses“ in Wilmersdorf ohne Krawatte und Einstecktuch zu verlassen, einen Stock mit Silberknauf, den er in einem Berliner Antiquitätenladen vor Jahren gekauft hat, in der rechten Hand. Ein zierlicher älterer Herr, der noch auf Aussehen und Umgangsformen achtet. Kultur, sagt Efraim, stehe „auf drei Säulen: Humanität, Ethik und Ästhetik“.
Früher, vor Corona, wäre er in das Literatur-Café gegangen, wo man einen Tisch für ihn freigehalten hätte. Aber das geht nicht mehr. Die etwa 500 Meter sind ein zu weiter Weg, es liegt feuchtes Laub auf der Straße, das zum Ausrutschen einlädt. Der Garten des Literatur-Cafés wird nicht mehr bespielt, und Efraim will unbedingt „draußen“ sitzen, da sei man, glaubt er, vor Corona sicher, zumindest sicherer als „drinnen“.
Also gehen wir in das „Meet You“, ein China-Restaurant an der Ecke Fasanen- und Ludwigkirchstraße. Das ist jetzt sein Stammlokal. Vor dem Eingang stehen Heizpilze, die in Berlin eigentlich verboten sind, derzeit aber geduldet werden. Mit Mantel und Mütze nimmt Efraim unter einem dieser Klimakiller Platz, zündet sich eine Dunhill an und bestellt, ohne einen Blick in die Speisekarte zu werfen, eine Schale Süß-Sauer-Suppe und eine Portion Reis mit zwei Spiegeleiern. Es ist der Abend vor dem Lockdown. Am Nebentisch sitzt ein Ehepaar vor einer Fischterrine und redet darüber, dass es gern verreisen würde, wenn die Welt nicht voller Risikogebiete wäre. „Man kann ja nirgendwo mehr hinfahren.“
Efraim hat „keinen Bock mehr auf Reisen“, zuletzt sei er 1993 in Venedig gewesen, „zum Fotografieren“, danach habe er Berlin nicht mehr verlassen. Er habe nie geheiratet, keine Kinder und keine Verwandten.
Zu alt, um Angst zu haben
Dennoch sei er zufrieden mit seinem Leben, traurig mache ihn nur, dass seine Mutter und sein Vater „früh gestorben sind“, eine jüngere Schwester, die in Israel geboren wurde, auch. Um vor irgendetwas Angst zu haben, sei er schon zu alt. Gut sei, „dass es eine jüdische Gemeinde in Berlin und in Deutschland gibt“, andererseits hätte es „nach dem Krieg kein jüdisches Leben mehr in Deutschland geben sollen“, die Symbolik des „neuen Lebens“, das „aus den Ruinen“ blüht, wie Schiller es sich vorgestellt hätte, sei eine „romantische Idee“, das Gerede von der „deutsch-jüdischen Symbiose“ und den „deutschen Bürgern jüdischen Glaubens“ ebenso. „Wir sind Hebräer! Wir sind ein anderes Volk!“
Inwiefern die Juden „anders“ sind und warum ein amerikanischer Jude ebenso wenig ein „richtiger Amerikaner“ sein könnte wie ein deutscher Jude ein „richtiger Deutscher“, das sei eine lange und komplizierte Geschichte, die er nicht zwischen Suppe und Hauptgericht erklären könne. So sei es eben, und man müsse auch nicht alles erklären können.
Und was die Muslime angeht, dürfe man nicht verallgemeinern. Der Islam habe „auch gute Seiten“, das Familienleben, die Gastfreundschaft, die Solidarität untereinander. „Gegen den Islam vorzugehen, könnte problematisch werden“, Kritik sei okay, Beleidigungen im Namen der Meinungsfreiheit nicht. „Man soll nicht Öl ins Feuer gießen.“
Allmählich wird es auch unter dem Heizpilz etwas kühl. Wir sind die Letzten, die noch im Freien sitzen. Leichter Nebel liegt in der Luft. Efraim zündet sich noch eine Dunhill an, die zwölfte an diesem Abend, wenn ich mich nicht verzählt habe, steht auf, knöpft den Mantel zu, greift nach dem Stock und macht sich auf den Weg zurück in seine Wohnung. Ganz langsam, Schritt für Schritt. Wie es sich gehört für einen aus der Risikogruppe.
Erschienen in der WELT am 10.11.2020