Europa operiert am Rande des Notstandes. Massenhafte Migration, eine infantile Politik und die Unfähigkeit oder der Unwille, das eigene Zivilisationsmodell zu verteidigen, bilden eine toxische Mischung. Beginn einer dreiteiligen Serie.
Im Jahr 1973 erscheint in Frankreich ein dystopischer Roman mit dem Titel Das Heerlager der Heiligen. Der Autor Jean Raspail, 2020 im Alter von 94 Jahren verstorben, war ein in Frankreich bekannter und erfolgreicher Schriftsteller, der zahlreiche Auszeichnungen für sein Werk, vor allem Reiseliteratur, erhalten hat. Vorangestellt ist seinem bekanntesten Werk ein Zitat aus den Offenbarungen des Johannes, dem einzigen prophetischen Buch des Neuen Testaments:
Und wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satan losgelassen werden aus seinem Gefängnis und wird ausziehen, zu verführen die Völker an den vier Enden der Erde, Gog und Magog, und sie zum Kampf zu versammeln; deren Zahl ist wie der Sand am Meer. Und sie stiegen herauf auf die Ebene der Erde und umringten das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt. Und es fiel Feuer vom Himmel und verzehrte sie.
Der Inhalt von Raspails Romans ist relativ schnell erzählt. In sarkastischer Sprache beschreibt der Autor das Eintreffen einer Million der ärmsten Inder an der französischen Küste, genauer an der Cote d‘Azur. Bei Abfahrt der riesigen Flotte, die sich aufgrund einer Hungersnot von Kalkutta aus mit 100 schrottreifen Schiffen auf den Weg macht, weigert sich einzig Australien, eine Parallele zur Gegenwart, mit Verweis auf seine Einwanderungsgesetze, die Notleidenden aufzunehmen und wird dadurch von der Weltgemeinschaft geächtet und moralisch ausgeschlossen. Ägypten verbietet aus Angst, die Flotte könnte im eigenen Land stranden, die Durchfahrt durch den Suezkanal, und so führt die Schiffsroute der Elenden zum Kap der Guten Hoffnung. Südafrika hat, als Apartheidstaat, keinen humanitären Ruf mehr zu verlieren und droht angesichts der Flotte vom Ganges mit militärischen Mitteln. Die ablehnende Haltung dieser Staaten angesichts der zerlumpten Massen hat den Effekt, dass die 100 Schiffe vom Kap der Guten Hoffnung Richtung Norden steuern, Richtung Europa. Eine ungewöhnlich gute Wetterlage lässt die geheime Hoffnung der europäischen Regierungen, die Schiffe würden in einem Sturm untergehen, rasch schwinden.
Das „Weltgewissen“ verlangt, die neue, bunte Welt zu begrüßen
Während alle europäischen Nationen danach hoffen, dass der Kelch der Invasion an ihnen vorübergehen wird, überbieten sich die einzelnen Regierungen dennoch, aufgrund des Drucks der moralisch Aufrechten in ihren Ländern, gegenseitig in Solidaritäts- und Willkommensadressen an die Flotte der Unglücklichen. Tägliche Medienkampagnen und eine landesweite pädagogische Indoktrination der intellektuellen Eliten verhindern jegliche kritische Auseinandersetzung über die Folgen einer möglichen Ankunft in der französischen Öffentlichkeit. Vielmehr sollen die Ankommenden die rassistische weiße Kultur, unter der Parole: Wir alle sind Menschen vom Ganges, läutern und erlösen. Ein großer, landesweiter Wettbewerb unter dem Motto: „Kinder zeichnen das Weltgeschehen“ hat in der Folge das Thema Wir und die Gäste vom Ganges zum Gegenstand. Künstler und Prominente, die heroisch auf ihr Golfturnier am Wochenende verzichten, fungieren als Schirmherren der Moralgala. Eigens komponierte Balladen und Lieder über das Leben der Unglücklichen ergänzen die erbauliche Veranstaltung der edlen Seelen. Zahlreiche Petitionen von linken Organisationen, Kirchen und Migrantenverbänden fordern die französische Regierung dazu auf, die potenziellen Einwanderer herzlich willkommen zu heißen. Zur gleichen Zeit, so heißt es im Roman, beschließen siebzehntausendzweihundertzwölf Oberschullehrer, den Unterricht am folgenden Tag mit einer Ansprache gegen Rassismus zu beginnen.
Aus Gründen, die der Erzähler nicht näher benennt, steuert die „Armada der letzten Chance“, wie ein bekannter linker Aktivist die Flotte in einem Anfall von Geistesblitz nennt, tatsächlich auf die Küste Frankreichs zu. Noch bevor sie mit ihrer Fracht von Toten, Sterbenden und Zerlumpten die südfranzösische Küste erreicht, flieht die Bevölkerung in böser Vorahnung bereits nach Norden. Militär und Polizei, von linken Propagandisten und Kirchenvertretern im Vorfeld ideologisch bearbeitet, lösen sich rasch auf. Der französische Präsident kapituliert am Ende vor der Invasion, da er längst ahnt, dass „das Weltgewissen“ von ihm verlangt, die ausbeuterische und rassistische Kultur Europas zu verurteilen und die neue, bunte Welt zu begrüßen. Am Ostersonntag, als die Flotte schließlich Frankreich erreicht, wird endgültig klar, dass niemand mehr bereit ist, für die Ordnung und Werte der einst stolzen Nation einzustehen. Angesichts der „Armada der letzten Chance“ und ihrer moralischen Überhöhung hat die Grande Nation mental nichts mehr entgegenzusetzen.
Der Erzähler, mit dem uns Raspail durch die Geschichte führt und der auf der Suche nach Erklärungen für das Geschehen immer wieder im Buch für Reflexionen Halt macht, kommt angesichts der Kapitulation Frankeichs vor der ankommenden Flotte zu folgendem Schluss:
Ihre Waffen sind die Schwäche, die Armut und das Mitleid, das sie erwecken sowie das ungeheure moralische Gewicht, das ihnen in den Augen der Weltmeinung zukommt. (…) Wer vermag in einer solchen Lage in seinem Herzen noch einen letzten Rest jenes geächteten Mutes aufzubringen, der ihn vor dem Ansturm des Mitleids schützen könnte? Wo soll er im Labyrinth der vorgekauten Gedanken und der vorgefertigten Gefühle noch nach Widerstandskräften suchen?
Eine Dystopie, die sich bewahrheitet hat
Die Armada der letzten Chance strandet schließlich auf dem Sand und den Felsen der Cote d’Azur. Frankreich stürzt nach ihrer Ankunft in ein Chaos und löst sich mitsamt seinen etablierten Institutionen als Republik auf. Die Einwanderer übernehmen nun, ohne große Gegenwehr, die Macht und werden, ähnlich wie in Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung, von einheimischen Überläufern unterstützt, die ihr Weißsein als tiefe Schuld an der Menschheit begreifen. Nach dem Vorbild der Inder schiffen sich schließlich auch an anderen Orten der Dritten Welt Millionen nach Norden ein. Europas Schicksal ist damit besiegelt und die letzten Protagonisten des Widerstandes werden am Ende von der eigenen französischen Luftwaffe mit Bomben ausgelöscht.
Bei der Wiedergabe des Inhalts des Romans haben einige Hörer sicher an Deutschland im Jahr 2015 denken müssen, an Entwicklungen, die auch 2023 eine Fortsetzung finden, wie etwa die aktuellen Diskussionen rund um die Massenanlandungen aus Afrika auf der italienischen Insel Lampedusa zeigen. Die Bilder tausender junger Männer im überfüllten Auffanglager auf Lampedusa machen klar, dass die sog. Migrationskrise in den kommenden Jahren nicht abflachen, sondern wahrscheinlich an Dramatik noch zunehmen wird und dass Deutschland als Hauptziel der Versorgungssuchenden unmittelbar davon betroffen sein wird.
Raspails Dystopie beschreibt vor 50 Jahren visionär den mentalen Zustand der heutigen (west)europäischen Gesellschaft in zum Teil harten, zynischen, aber auch satirischen Sequenzen, oft grotesk überzeichnet, burlesque und obszön. Das Heerlager der Heiligen ist ein Buch, das heute unmöglich wäre zu schreiben und das selbst nach den Maßstäben der 70er Jahre als radikal in seiner Sprache und Inhalt bezeichnet werden muss. Nicht umsonst hat das linke Feuilleton bei seiner Neuauflage im Jahr 2015 im Verlag Antaios eine „Lesewarnung“ ausgesprochen und das Buch als „übles Machwerk“ eines Rechtsextremisten bezeichnet, der nur die Überfremdungsängste alter weißer Männer bediene. Aber das sind nur die üblichen Floskeln einer besorgten Linken, die jede Abweichung von ihren Dogmen des Multikulturalismus vehement bekämpft. Am Ende erreichte der Appell der Besorgten das Gegenteil des Intendierten: Das Heerlager der Heiligen wurde 2015 zu einem Bestseller und fand zahlreiche Leser in Deutschland.
Der demografische Niedergang Europas
Der Katholik Raspail sah, um nochmals die Offenbarung des Johannes zu zitieren, die apokalyptischen Reiter in unterschiedlichen Gestalten auf Europa zukommen bzw. bereits in seinem Inneren am Werk: die rasante demographische Entwicklung der Dritten Welt, die Dekadenz und den mangelnden Willen zur Selbstbehauptung des Abendlandes, schließlich die moralische Geiselhaft durch Medien und Politik, die jeden Widerspruch und jede Frage nach den längerfristigen Folgen der massenhaften Einwanderung gnadenlos verbieten und ihre tägliche Propaganda für eine neue, bunte Welt betreiben.
Sehen wir die für Raspail maßgeblichen Entwicklungen für den Niedergang der westlichen Welt genauer an, zunächst die Demografie. Die demografische Entwicklung der arabischen, aber vor allem der afrikanischen Länder übertrifft derzeit alles, was historisch bekannt ist. Selbst die Bevölkerungsexplosion in Europa seit dem 15. Jahrhundert, die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt findet, verblasst dagegen in ihrer Dynamik. Afrika wächst jede Woche um fast eine Million Menschen, das sind 40–50 Millionen im Jahr. Ähnlich, wenn auf längere Sicht auch nicht ganz so dramatisch wie in Afrika, sind die Zuwachsraten in den arabischen Ländern. Für die islamische Welt insgesamt gilt, dass sie in nur fünf Generationen (1900–2000) von 150 Millionen auf 1,2 Milliarden Menschen zugenommen hat. Wenn nur 10 Prozent der jungen Afrikaner nach Europa auswandern wollen, dazu noch eine große Zahl arabischer Migranten aus den Bürgerkriegsgebieten des Nahen Ostens, dann müssen sich die politisch Verantwortlichen in aller Dringlichkeit die Frage stellen, was das für Europa und insbesondere für Deutschland als Ziel- und Wunschland Nummer 1 bedeutet.
Denn es spielt in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle, Stichwort Obergrenze, ob Deutschland jedes Jahr 200.000, 500.000 oder noch mehr Migranten aufnimmt. Millionen weiterer Auswanderungswilliger stehen bereit, die sich von einer von Deutschland beschlossenen Obergrenze sicher nicht aufhalten lassen werden. Aber so genau will das hierzulande niemand wissen. Man schließt gern die Augen und fordert, von nebulösen Formeln wie „europäische Lösung“ abgesehen, die „Fluchtursachen zu bekämpfen“ oder, wie aktuell wieder vermehrt diskutiert, Rückführungen abgelehnter Asylbewerber zu beschleunigen.
Das alles sind nur Zauberformeln einer weitgehend infantilen Politik geworden, die sich vor schwerwiegenden Entscheidungen drückt und offenbar in einer Traumwelt lebt. Es zeigt sich an dieser Stelle auch eine kolossale Egozentrik, die ernsthaft suggerieren will, Deutschland könne die Probleme und Konflikte Afrikas und der arabischen Staaten lösen – ein weiteres Kapitel in der Geschichte des deutschen Größenwahns als utopisches Projekt. Die hilflose Forderung „Fluchtursachen zu bekämpfen“ zeugt von einem elementaren Unwissen über die Dynamik von Wanderungsbewegungen. Solange es ein Wohlstandsgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gibt, wird jede Verbesserung der Situation vor Ort, den Migrationsdruck erhöhen. Die europäische Auswanderung nach Amerika etwa erreichte ihren Höhepunkt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die Lebenssituation der meisten Menschen bereits verbessert hatte und finanzielle Mittel für die Schiffspassage vorhanden waren. Emigration ist niemals Ausdruck von absoluter Armut, sondern der Erwartung, die eigene Lage entscheidend verbessern zu können. Wer meint, Fluchtursachen in Afrika oder anderswo zu bekämpfen, wird paradoxerweise kurz- und mittelfristig die Auswanderung verstärken.
Es bleibt bei den üblichen Beruhigungsritualen
Raspail ist nicht der Einzige, der schon früh die Entwicklungen der Gegenwart vorhersah. 1982 konnte der SPD-Kommunalexperte Martin Neuffer im Spiegel noch einen Beitrag mit dem dramatischen Titel Die Reichen werden Todeszäune ziehen, veröffentlichen. Mit den darin enthaltenen Aussagen würde Neuffer heute sicher nicht nur eine Anzeige wegen Volksverhetzung erhalten, sondern auch aus seiner Partei ausgeschlossen. Das allein zeigt, wie eingeengt und tabuisiert alle Themen rund um die Masseneinwanderung geworden sind, hauptverantwortlich dafür insbesondere die Medien, die fast unisono mit einer Stimme sprechen. Das Eindrucksvollste an Neuffers Text ist, wie bei Raspail, die prognostische Qualität. So schreibt der SPD-Politiker, sozusagen ein früher Sarrazin, in Bezug auf die kommende Entwicklung vor über 30 Jahren:
Die Bevölkerung Afrikas wird sich voraussichtlich vervierfachen, ehe das Wachstum zum Stillstand kommt, die Südasiens von heute 1,4 auf über 4 Milliarden ansteigen. Der mit solchen Entwicklungen verbundene ungeheure soziale Druck wird zwangsläufig zur Herausbildung autoritärer bis diktatorischer politischer Regime in zahllosen Ländern dieser – und natürlich auch anderer – Erdregionen führen. Unter Anlegung heutiger Maßstäbe wird sich die Zahl derer, die politisch bedroht oder verfolgt werden, leicht auf Hunderte von Millionen Menschen belaufen. Es ist eine Illusion, zu meinen, die Bundesrepublik könne in dieser Lage ihre Grenzen für alle Asylanten der Erde weit offen halten. Sie könnte es schon nicht annähernd für die unübersehbare Masse der echten politischen Flüchtlinge. Sie wäre aber auch überhaupt nicht in der Lage, zwischen echten und den Fluten der unechten Asylsuchenden zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung verlöre von einem bestimmten Punkt an auch jeden Sinn.
Gegenwärtig sehen wir täglich in den Nachrichten die Folgen einer Politik, die sich den von Neuffer aufgeworfenen Problemen nicht stellen will und sich lieber in Weltrettungsphantasien – diesmal soll es das Klima und damit die ganze Menschheit sein – ergeht. Die Realität sieht so aus: Mitte September kamen allein innerhalb eines Tages in über 100 Booten, was wohl eine abgestimmte Aktion war, etwa 7.000 Migranten in Lampedusa an, eine Insel, die gerade einmal 6.000 Einwohner hat. Anschließend wurde der Notstand ausgerufen, und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen besuchte die verzweifelten Einheimischen und versprach wie immer Hilfe und eine gesamteuropäische Strategie anhand eines 10-Punkte-Planes mit den üblichen Forderungen: Die Grenzschutzagentur FRONTEX soll die Überwachung auf See aus der Luft verstärken, Italien soll bei der Registrierung der Ankommenden unterstützt werden und andere Länder der EU freiwillig Migranten aus Italien aufnehmen, etwas, dass seit 2015 niemals funktioniert hat. Ein genauer Zeitplan und die konkrete Umsetzung der einzelnen Punkte wurde nicht benannt, und so wird es bei den üblichen Beruhigungsritualen für die betroffene Bevölkerung bleiben.
Dieser Text ist ein Vortrag, den der Autor am 8. Oktober 2023 für die Reihe Audimax des Radiosenders „Kontrafunk“ gehalten hat.
Lesen Sie morgen Teil 2
Dr. Alexander Meschnig studierte Psychologie und Pädagogik in Innsbruck und promovierte in Politikwissenschaften an der HU Berlin. Auf Achgut.com analysiert er unter mentalitätsgeschichtlicher und psychologischer Perspektive die politische Situation Deutschlands.