Von Christian Eckl.
Die Gesundheitspolitik der Bundesregierung ist selbst zum Pflegefall geworden. Der Ampel alleine kann man nicht die Schuld geben. Nur macht sie es auch nicht besser als ihre Vorgänger. Den Pflegeeinrichtungen droht Insolvenzgefahr auf breiter Front.
Die gesundheitspolitische Allzweckwaffe der Regierung, Karl Lauterbach, ist schnell stumpf geworden. Kurzerhand erklärte der Bundesgesundheitsminister Ende Mai, dass es in dieser Legislaturperiode keine Pflegereform mehr geben werde. Die Ampelparteien konnten sich auch zu diesem Thema nicht einigen, wie Lauterbach einräumt. Branchenverbände attestieren der Regierung heillose Zerstrittenheit.
Damit verstreiche die nächste Chance ungenutzt, die Weichen in Richtung Zukunft zu stellen, meint dazu der Verband der Privaten Krankenversicherungen. Eine so zutreffende wie ungehörte Kritik. Die Ampel hat offensichtlich nicht mehr die Kraft, um überlebenswichtige Reformen auf den Weg zu bringen.
Fatale Übertragung: Das Bundesgesundheitsministerium als Dienstleister für pflegebedürftige Menschen hat sich anscheinend so stark mit seiner Klientel identifiziert, dass es als Erstes dessen Schwächen übernommen hat. Antriebslosigkeit bis zur Depression paralysiert beide Seiten in unheilvoller Wechselwirkung.
Ist die Lage auf dem Pflegesektor tatsächlich so fatal? Und wenn ja, warum?
Der polarisierende Tiger der Corona-Jahre ist in seine neue Aufgabe als Gesundheitsminister in der Pflegepolitik mit einem heldenhaften Sprung gestartet. Endlich sollten Pflegefachkräfte mehr Wertschätzung erfahren. Denn das größte Problem war zu Beginn von Lauterbachs Amtszeit der Fachkräftemangel in der Pflege.
Personalpolitik mit Schönheitsfehlern
Daran hat der Minister, das darf man ihm bescheinigen, intensiv gearbeitet. Das Ergebnis ist interessant. Mehr Wertschätzung für das Pflegepersonal gibt es jetzt. Das drückt sich vor allem in einer besseren Bezahlung aus. Kleiner Schönheitsfehler: Der Fachkräftemangel ist geblieben und hat sich sogar noch verstärkt. Großer Schönheitsfehler: Durch die Pflegeeinrichtungen rollt mittlerweile eine verheerende Pleitewelle, die die desaströse Lage der Pflege noch einmal deutlich verschlechtert.
Eine absolut vorhersehbare Entwicklung. Wenn man denn mehr als eindimensional und auch nur ansatzweise wirtschaftlich denken könnte. Doch diese Fähigkeit scheint es in der Gesundheitspolitik schon länger nicht mehr zu geben. Oder man nutzt sie nicht.
Schlecht war der erste Gedanke ja nicht. Die Gehälter in der Pflege wurden angehoben. Die Durchschnittseinkommen in der Altenpflege stiegen laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2023 auf monatlich 3.920 Euro, in der Krankenpflege sogar auf 4.067 Euro. Zum Vergleich: Das durchschnittliche Monatsgehalt aller Fachkräfte in Deutschland lag im gleichen Zeitraum bei 3.714 Euro. Das ist schon mehr wert als ein Applaus vom Balkon.
Refinanzierung vergessen
Doch der Absturz folgte leider auf dem Fuße. Denn die Lohnanhebung hätte man auch finanzieren müssen. Nur fühlte sich dafür niemand zuständig. Am allerwenigsten im Gesundheitsministerium.
Und die Kostenträger in den Krankenkassen und Sozialämtern blockten konsequent ab. Sie beriefen sich auf die Laufzeiten bestehender Verträge und verzögerten die Refinanzierung der gestiegenen Lohnkosten massiv. In einer Umfrage der Sozialbank, dem „Trendbarometer der Sozial- und Gesundheitswirtschaft“, nannten die angesprochenen Einrichtungen im Mai 2024 erstmals die Vergütungsverhandlungen mit den Kostenträgern neben dem Fachkräftemangel als eine der größten Herausforderungen der Branche.
Die Folge ist eine Pleitewelle in den Pflegeeinrichtungen: Im Jahr 2023 mussten 300 Pflegeunternehmen mit 22.000 Pflegeplätzen sowie 210 Pflegedienste mit 10.500 Versorgungen Insolvenz anmelden. Ein Jahr zuvor wurden nur 74 solcher Fälle gemeldet.
Liquidität geht vor Rentabilität: Diese kaufmännische Binsenweisheit bekommen Einrichtungen stationärer und ambulanter Pflege in diesen Tagen bitter zu spüren. Nur der Bundesgesundheitsminister hat es offensichtlich nicht begriffen. Die einschlägigen Zahlen nimmt er jedenfalls nicht zur Kenntnis.
Leichentuch statt Bettvorleger
Dabei ist das bisher nur die Spitze des Eisberges: 45,7 Prozent der befragten Unternehmen in der Branche erwarten laut oben genanntem Trendbarometer für 2024 ein negatives Jahresergebnis. Sogar 51,4 Prozent betrachten ihre wirtschaftliche Situation als angespannt oder sehr angespannt. Mit anderen Worten: Rund die Hälfte der Pflegeeinrichtungen hierzulande ist insolvenzgefährdet. Der abgesprungene Tiger ist nicht einmal mehr als Bettvorleger gelandet. Stattdessen hat es nur noch für ein Leichentuch gereicht.
Kein Wunder, dass die Verbände der Pflege lautstark Alarm schlagen. Doch auch diese Botschaft scheint in der Gesundheitspolitik noch nicht angekommen zu sein. „Die Probleme, dass Kostenträger Mehrkosten unter Berufung auf Laufzeiten bestehender Verträge regelmäßig nicht unverzüglich refinanzieren, sind kein Geheimnis“, mahnt Andrea Kapp, Geschäftsführerin des Bundesverbands Ambulante Dienste und Stationäre Einrichtungen e.V. (bad). „Nach unserer Wahrnehmung hatte die Politik diesbezüglich in der Vergangenheit kein Erkenntnisproblem. Vielmehr fehlte der politische Wille, hieran etwas zu ändern. Es wäre zu begrüßen, wenn sich dies angesichts der Insolvenzwelle innerhalb der Pflegebranche nun ändern würde. Allein die Tatsache, dass es längst kein Einzelfall mehr ist, dass Pflegeeinrichtungen viele Monate darauf warten müssen, bis die Sozialämter ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen, ist ein Skandal.“
Weiter weist der bad darauf hin, dass den Pflegeeinrichtungen die Schließung drohe, wenn sie nicht wirtschaftlich arbeiten können. Leidtragende seien dann nicht nur die Einrichtungen selbst sowie deren Belegschaft, sondern vor allem auch die pflegebedürftigen Menschen, deren Versorgung wegbreche. Das alles geschehe zudem in einer Situation, in der die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland von rund fünf Millionen im Jahr 2021 auf voraussichtlich 6,8 Millionen bis 2055 steigen werde. Gleichzeitig gehen in den kommenden Jahren mit den Babyboomern mehr Pflegekräfte in Rente als neues Fachpersonal nachkommt, wie der Pflegereport der Krankenkasse DAK-Gesundheit vermeldet.
„Ein Systemwechsel ist unausweichlich“
Auch die Pflegeversicherung erwartet für dieses Jahr rote Zahlen. Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandschef des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherungen, der auch die Pflegekassen vertritt, bezifferte das Defizit im ersten Quartal 2024 auf 650 Millionen Euro. Für das Gesamtjahr erwartet er ein Minus von 1,5 Milliarden Euro, für 2025 sogar ein Defizit in Höhe von 3,4 Milliarden Euro.
„Ein Systemwechsel nach 30 Jahren Pflegeversicherung mit einer grundständigen und legislaturübergreifenden Finanz- und Strukturreform ist unausweichlich“, fordert daher Wilfried Weseman, Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Verbands für Altenarbeit und Pflege e.V. (DEVAP). „Träger, Pflegebedürftige und das Pflegepersonal erwarten seit Jahren, dass die Bundespolitik endlich ihren Job macht und sich auf Lösungen verständigt. Kleinteilige Ansätze genügen schon lange nicht mehr, um langfristig eine sichere Versorgung zu gewährleisten.“
Warum das nicht geschieht? Es wird wohl – wie so häufig – auch am Geld liegen. Die Bundesregierung wäre möglicherweise gut beraten, wenn sie noch einmal über ihre Prioritäten nachdenken würde. Hier greift eine weitere ökonomische Binsenweisheit: Man kann jeden Euro nur einmal ausgeben.
Christian Eckl, geboren 1963 in Essen, ist Inhaber eines mittelständischen Zeitschriftenverlags, freier Autor und Chefredakteur der Zeitung PflegeManagement, des auflagenstärksten deutschen Fachmediums für Pflegeeinrichtungen. Neu erschienen von ihm ist Morgen war ein schöner Tag, NOVA 2024, 350 S., hier bestellbar.