112-Peterson: Was ist Liebe?

Im Folgenden geben wir einen Auszug aus einem Gespräch zwischen Jordan B. Peterson und dem kanadischen Psychologie-Professor und Kollegen John Vervaeke wieder.

Jordan B. Peterson: Meine Definition von Liebe lautet: Das beste in mir dient dem besten in dir. Und das halte ich für das tiefsinnigste, langlebigste Vergnügen und die umfassendste, unerschöpflichste Motivationsquelle. Denn wann immer ich auf diese Weise handle, habe ich das Gefühl, mich ordnungsgemäß zu verhalten. Und es gibt doch nichts besseres.

John Vervaeke: Und vor allem ist diese Definition (von der Liebe zu Menschen) auf vieles andere übertragbar. Auf die Welt, auf Situationen, auf Orte ...

Jordan B. Peterson: Naja, ich würde mal sagen, das ist überhaupt die Grundvoraussetzung für die Annahme, dass Gott Liebe bedeutet. Es heißt ja, Gott ist Liebe und Gott ist Logos, also Vernunft, Folgerichtigkeit und Definition. Das heißt, man könnte sich die Frage stellen, welches davon zuerst kommt. Und ich würde es so formulieren: Gott ist Wahrheit in Liebe. Und dies ist der Geist, der die Menschheit motiviert. Natürlich ist das eine ganz andere Behauptung, als sie ein Atheist aufstellen würde (lacht). Aber trotzdem: Ist Wahrheit im Dienst der Liebe nicht die allerbeste Motivation für einen Menschen, die man sich denken kann? Ein Irrweg ist es bestimmt nicht. Aber jeder kann sich diese Frage selbst stellen.

John Vervaeke: Auf jeden Fall ist das eine gute Frage! Ich glaube, dass sich die Aspekte „Wahrheit“ und „Liebe“ noch stärker gegenseitig durchdringen. Ich denke, sie verbindet ein stärkeres Verhältnis als nur der Aspekt des Dienens. Ich finde in diesem Zusammenhang den Begriff der „Bewusstwerdung“ sehr passend. Liebe ist für mich die Möglichmachung der Bewusstwerdung. Und das tiefste Verständnis für Realität liegt nun einmal in der Bewusstwerdung.

Jordan B. Peterson: Na gut, dann füge ich meiner These noch eine Fußnote hinzu: Die Realität, die am ehesten zu vertreten ist, wird durch das Wirken der Wahrheit im Dienste der Liebe herbeigeführt.

John Vervaeke: Ja. Aber zum Begiff der Wahrheit muss ich sagen: Ich glaube, dass Sie „Wahrheit“ in einem Sinne verstehen, der über das Verhältnis zwischen dem semantischen Inhalt eines Gedankens und der Realität hinausgeht.

Jordan B. Peterson: Ja, natürlich spreche ich in diesem Fall von „Wahrheit“ im größeren Sinne.

John Vervaeke: Diesen Punkt würde ich gerne weiter ausführen. Wenn Sie auf ein Ziel schießen und treffen, dann war Ihr Können effektiv. Ihre Macht an diesem Punkt ist eine Form der Wahrheit. Aber unsere bloße Existenz stellt auch eine bestimmte Wahrheit dar. Nicht zuletzt beinhaltet die tiefste Form der Wahrheit das geteilte Wissen, das an Vertrauen gekoppelt ist und daraus folgend an das wichtige, enge Verbundensein mit der Welt.

Wenn Sie mir also gestatten, den Begriff von „Wahrheit“ auf all diese angeschnittenen Dimensionen auszudehnen ...

Jordan B. Peterson: Ja, absolut! Verbunden mit der Welt im selben Maße wie man auch mit seinem Partner verbunden oder an ihn gebunden ist.

John Vervaeke: Genau! Ich glaube, die Antwort auf den Nihilismus ist kein propositionales Wissen (Begriff aus der Philosophie, „wissen, dass“, Anm.d.Red.), sondern das Wiedererlernen, sich in die Realität und das Sein zu verlieben. Und zwar im tiefsten buddhistischen Sati-Sinne.

(...)

Im Grunde leben wir doch alle vom nicht-propositionalen Wissen, wie Platon hervorhob (mit nicht-propositional ist „nicht-konkretes“ Wissen gemeint, wie beispielsweise Fertigkeiten und Fähigkeiten oder das geistige Innenleben, Anm.d.Red.). Sokrates versuchte den Fokus der Menschen auf das nicht-propositionale Wissen zu lenken. Also das prozessuale, perspektivische und partizipierende Wissen.

(...)

Jordan B. Peterson: Bitte erklären Sie die verschiedenen Modi der Erkenntnis noch einmal genauer.

John Vervaeke: Noch heute benutzen wir in der Psychologie die Definition des Philosophen Gilbert Ryle (1900-1976). Propositionales Wissen bedeutet das Wissen, dass etwas der Fall ist. Also größtenteils geht es hierbei um die Stichhaltigkeit von semantischem Inhalt, also der Wahrheit von Aussagen.

Jordan B. Peterson: Und das ist mit der Aufforderung verwandt, dass an Gott zu glauben bedeutet, einige Propositionen, also Grundannahmen, zu akzeptieren, die mit dem Wesen Gottes einhergehen. Aber der Grund dafür, warum sich tiefergehende Fragen nach dem Wesen Gottes nicht so leicht beantworten lassen, ist, dass diese Fragen überhaupt nicht propositional, also nicht durch genaue Angaben zu beantworten sind.

John Vervaeke: Genau!

Jordan B. Peterson: Ihre Differenzierung hat mir wirklich sehr geholfen! Denn somit kann ich meinen Sinn für den nicht-propositionalen Raum schärfen. Ich weiß, dass die Philosophie zwischen „wissen, dass“ und „wissen, wie“ unterscheidet, seitdem ich „Warum wir denken, was wir denken“ geschrieben habe. Und dass das Innenleben, also die „Philosophie des Geistes“ wieder etwas anderes ist.

Dies ist ein Auszug aus einem Gespräch zwischen Jordan B. Peterson und dem kanadischen Psychologie-Professor und Kollegen John Vervaeke wieder. Hier geht's zum Auszug und hier zum gesamten Gespräch.

Foto: jordanbpeterson.com

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H.J. Ewers / 30.06.2021

Bei der Diskussion über solche und ähnliche Themen scheint es offenbar nicht vermeidbar zu sein, den religiösen „Glaubensgegenstand“  der „Glaubens-Infizierten“ ins Spiel zu bringen und über IHN zu schwurbeln. Zitat: „das Gott Liebe bedeutet. Es heißt ja, Gott ist Liebe…“ Genauso schwurbelt auch Ratzinger: „Gott ist die Liebe ...“ Dazu schreibt Herr Prof. Dr. Thomas Rießinger: „Gott ist die Liebe, heißt es, und nicht etwa: Gott empfindet Liebe oder Gott ist voll von Liebe oder ähnliches. Nein, er ist die Liebe, muss also mit ihr identisch sein. Gleichzeitig sagt aber der gleiche Johannes, dass Gott die Menschen liebt. 7 Verbindet man beide Aussagen, so folgt daraus, dass die Liebe die Menschen liebt: Man fühlt sich an Heideggers inhaltsleere Erkenntnisse über das Nichts und das Ding erinnert, nach denen das Nichts nichtet und das Ding dingt;...“

Joerg Haerter / 30.06.2021

Da sind sie wieder, die, die Liebe mit Verliebtsein verwechseln. Jemand der im KZ für einen Anderen in die Gaskammer geht, der hat geliebt. Und das stimmt, niemand hat grössere Liebe. Johannes. Aber in unserer oberflächlichen Konsumwelt reduziert man Liebe auf das Ding zwischen Mann und Frau. Armselig.

Esther Burke / 30.06.2021

Liebe- Wahrheit - Schönheit : diese zusammen sehe ich in der Trinität , dem christlichen Credo. Ich glaube, dass hierin der Sinn und die Erfüllung unseres nicht nur (ausschließlich) stofflichen menschlichen Lebens liegt.

Piosczyk Bernhard / 30.06.2021

Bin heute früh aufgestanden und habe mich gewaschen. Ein Vogel setzte sich af die Fensterbank.

Michael Fasse / 30.06.2021

Was ist Liebe? „Gott ist Liebe!“ (1. Johannesbrief 4,8) Wie liebt Gott? „Größere Liebe hat niemand, als die, wenn einer sein Leben lässt für seine Freunde“ (Jesus in Johannes 15,13) Wo finden wir also die wahre Liebe? Nur bei dem, der für unsere Schuld gestorben ist, auferstand und auf unsere Gegenliebe sehnlichst wartet: Jesus Christus!

Wilfried Cremer / 30.06.2021

Liebe ist nicht definierbar. „All you need is love“ kann man getrost mit „Uah uah“ übersetzen.

Jörg Nestler / 30.06.2021

„Naja, ich würde mal sagen, das ist überhaupt die Grundvoraussetzung für die Annahme, dass Gott Liebe bedeutet.“ Wenn religiöse Grundeinstellungen in Gedankengänge einfließen, verlieren Gedanken ihre Klarheit und Logik. Es ist wie das Gießen einer klebrigen Soße in ein klares, sich zielgerichtet bewegendes Wasser. Als religiöser Mensch fühlt man sich dann wohl, weil man sich wieder in seiner gewohnten Gedankenwelt befindet, die man zu seiner geistigen Heimat erkoren hat. Doch das Ergebnis ist, in Dummheit gefangen zu sein. Gedanken sind kein Ziel, stellen keine Liebe dar, sondern sind nur Mittel zum Zweck. Der Zweck besteht darin, das Leben zu meistern. Gott ist kein Wesen. Es gibt etwas, was sich logisch nicht vollständig erklären lässt. Es betrifft den Ursprung der Welt, dem Verständnis ein zeitlich begrenztes Leben zu führen, dem Erfassen der tieferen Logik, die dahinter steht. Das kann man, wenn man will, Gott nennen. Da tausende Jahre menschlicher Existenz nicht ausgereicht haben, zu klären was „Gott“ ist, sollte man sich davon verabschieden, es gedanklich erfassen zu können. Sinnvoller ist es, die Gedanken einmal zur Ruhe kommen zu lassen, um Abstand von ihnen zu gewinnen und vielleicht einen Hauch davon zu spüren, was jenseits der Gedanken liegt. Dazu braucht man einen klaren, unvoreingenommen Geist. Mit religiösen Überzeugungen bekommt man das Gegenteil davon.

Werner Arning / 30.06.2021

Die Entwicklung von Liebesfähigkeit und die Bewusstwerdung des Wahren mögen sich gegenseitig bedingen, das Eine kann ohne das Andere nicht. Fehlt das Eine, kann auch das Andere nicht sein. Ein liebesunfähiger Mensch kann wohl auch die Wahrheit nicht leben. Ein Mensch, der in der Wahrheit steht, muss wohl lieben. Wer nicht ahnt, was Wahrheit ist, fragt wohl mit Pontius Pilatus : „Was ist Wahrheit?“. Er verweilt im „nicht-propositionalem Raum“. Durch sein Festhalten am „Konkreten“, das einzige Fundament des Atheisten, bleibt ihm womöglich die Erkenntnis des Wichtigeren (der Wahrheit) verwehrt. Jedoch muss auch der „Religiöse“ aufpassen, dass er nicht an der Oberfläche, an Ritualen, an Äußerlichkeiten festhält, die wiederum nur „das Konkrete“ ersetzen. Ob er sich auf dem richtigen Weg befindet, erkennt er möglicherweise an seiner eigenen Liebesfähigkeit. Das könnten die Früchte sein, an denen man ihn erkennt.

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