Das Wort „Antisemitismus" taugt noch als Popanz im „Kampf gegen Rechts“, aber am eigentlichen Problem geht es glücklich vorbei.
Fasziniert verfolge ich aus der Ferne den „Antisemitismus-Skandal“ um die Berlinale 2024. All die Verwirrungen, gegenseitigen Anschuldigungen, Denunziationen und Selbstbezichtigungen. Täglich neu. Hier eine Stimme aus der fernen Wüste, allerdings genau der Wüste, in welcher der Tumult seinen Ursprung nahm. Har Chevron heißt die Gebietsverwaltung südlich von Hebron, die Moazah Isrurit in der judäischen Wüste, in der auch jenes arabische Dorf Mesafer Yatta liegt, über das Yuval Avraham und sein palästinensischer Kollege Basil ihren auf der Berlinale preisgekrönten Dokumentar-Film No Other Land fabriziert haben.
Ich wohne gleich nebenan. Direkt am Checkpoint der Straße 60, die von Beer Sheva nach Hebron führt. Daher staune ich über den Wirbel, den unsere Gegend in Berlin aufrührt. Die Wogen schlagen hoch. In seiner Dankesrede erinnerte Yuval an die Leiden der Palästinser unter israelischer Besatzungsmacht, Basil sprach von einem „Genozid – beides inzwischen gängige, in Kreisen der linken Kultur-Schickeria obligatorische Stereotype. Auch, dass daraufhin der Antisemitismus-Vorwurf ins Spiel kommt, ist das Übliche. Aber dann geschieht Ungeheuerliches, fast Unvorstellbares: Claudia Roth „räumt eigene Fehler ein“ (Spiegel-Online, 1.3.2024) Da musste ich zweimal hinschauen. Ist sie nun doch in Behandlung und zu schockierenden Selbstanalysen bereit?
Was ist eigentlich geschehen? Soweit ich von hier aus mitbekam, hat Yuval Avraham, ein junger israelischer Dokumentar-Filmer, gemeinsam mit einem palästinensischen Kollegen einen Preis des Filmfestivals „Berlinale“ erhalten, den Preis für den besten Dokumentarfilm. Ihr Film beschäftigt sich mit der Räumung (in politisch korrekter Sprache „Vertreibung“) eines Teil von Mesafer Yatta, weil die israelische Armee dort ein shetach esh einrichten wollte, ein Gebiet, in dem zu Übungszwecken scharf geschossen wird. Solche Areale gibt es im Süden Israels in großer Zahl – muss ich hinzufügen „leider“? Muss ich den internationalen Friedensfreunden erklären, dass auch wir uns das Leben schöner vorstellen könnten ohne militärische Sperrgebiete, ohne Riesenarmee, ohne unsere Kinder und Enkel dauernd unter Waffen, in Lebensgefahr?
Eine einzige seiner Lügen
De facto wurden einige arabische Großfamilien in einen anderen Teil der Gegend evakuiert, unter den Augen internationaler Beobachter, israelischer Journalisten und Filmleute – wäre es also dabei zu israelischen Grausamkeiten gekommen, wüssten wir es längst. Für einen Dok-Film über „Vertreibung“ reicht es trotzdem noch, er wird natürlich auf der „Berlinale“ mit einem Preis ausgezeichnet – geschenkt. Nun zur Dankesrede auf der festlichen Preisverleihung, in der Yuval, obwohl ein Filmfestival eigentlich eine künstlerische Veranstaltung sein sollte, sein politisches Credo verkünden musste. Nämlich dieses (und ich zitiere nach Wikipedia, wo der frisch Berühmte mit seiner großen Rede inzwischen einen Eintrag hat):
„Ich möchte sagen, wir stehen hier vor euch zusammen. Basil und ich sind im selben Alter, ich bin Israeli, er ist Palästinenser. Und in zwei Tagen werden wir in ein Land zurückgehen, wo wir nicht gleichberechtigt sind. Ich lebe unter Zivilrecht, Basil unter Militärrecht. Wir leben 30 Minuten voneinander entfernt: ich habe das Wahlrecht, Basil nicht. Ich habe die Freiheit hinzugehen, wohin ich will, Basil ist wie Millionen andere Palästinenser eingesperrt in den besetzten Gebieten. Diese Situation von Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit, sie muss enden. Und wir fragen, wie wir einen Wandel erreichen, um die Besatzung zu beenden, um eine politische Lösung zu erreichen. Und wir haben die Antwort nicht wirklich, aber ich denke eine Antwort ist, dass die Menschen wirklich aufstehen. Es gibt eine Menge mächtige Leute in diesem Saal; es gibt eine Menge Minister und Leute, deren Stimmen gehört werden. Wir brauchen den Aufruf zu einem Waffenstillstand. Wir brauchen den Ruf zu einer politischen Lösung für ein Ende der Besatzung.“
Eine „antisemitische“ Aussage kann ich in Yuvals Gerede nicht entdecken, nur eine Menge Unwahrheiten. Zu viele, um sie hier alle zu untersuchen. Ich beschränke mich auf eine einzige Falsch-Aussage, eine einzige seiner Lügen, auf den Satz: „Ich habe die Freiheit hinzugehen, wohin ich will, Basil ist wie Millionen andere Palästinenser eingesperrt in den besetzten Gebieten.“
Hunderttausende Palästinenser bewegen sich frei auf israelischem Staatsgebiet
Ich weiß nicht, in welchem Land Yuval lebt und von welchem er hier spricht, ich weiß nur, dass allein über unseren Grenzübergang, den schon erwähnten Checkpoint an der Straße 60, jeden Tag zwischen dreizehn- und fünfzehntausend Palästinenser auf unsere, die „proper israelische“ Seite kommen, um hier zu arbeiten. Dass unser Ort in Friedenszeiten, wenn nicht gerade Krieg ist wie jetzt, gut besucht ist von Palästinensern, man könnte sagen, von Palästinensern wimmelt. Sie arbeiten auf allen Baustellen ringsumher, sie laufen in Gruppen oder einzeln durch die Straßen, sie sitzen rauchend auf den Parkbänken und kaufen bei uns im Supermarkt ein.
Seit Jahrzehnten werden alle Renovierungen und Reparaturen in unseren Häusern, alle größeren Gartenarbeiten auf unseren Grundstücken von palästinensischen Arbeitern ausgeführt. Sie kommen dafür aus den „Gebieten“, in denen sie angeblich eingesperrt sind, ganz normal zu Fuß auf unsere Seite, und ernähren von dem Geld, das wir ihnen bezahlen, ihre Familien auf der anderen. Wenn sie – wie in den meisten Fällen – bei israelischen Arbeitgebern angestellt und versichert sind, haben sie ID-Karten der israelischen Regierung, Plastikkarten, mit denen sie sich am Checkpoint ausweisen wie das auch ich und jeder Israeli tun muss.
Während sich also hunderttausende Palästinenser frei auf israelischem Staatsgebiet bewegen (denn wie an unserem verlassen auch an mehreren Dutzend anderen Übergängen die Eingesperrten täglich ihr Gebiet), ist mir, dem von der „Apartheid“ privilegierten Israeli, ein Besuch in einem ihrer Dörfer verwehrt. Ich darf nicht einmal wie sie zu Fuß auf die andere Seite wechseln, da würde ich Ärger mit den Sicherheitsleuten am Checkpoint bekommen.
Wir von der „Apartheid“ Begünstigten dürfen nur im Auto auf bestimmten, bewachten Straßen durch ihre Gebiete fahren, auf denen in Abständen rote Warnschilder aufgestellt sind, damit wir nicht versehentlich in eins der palästinensischen Dörfer abbiegen, wo man unser Auto demolieren und uns selbst verprügeln würde, wenn nicht einfach lynchen. Und was die Teilnahme an den Wahlen betrifft: Auch ich kann nicht an den Wahlen auf der anderen, der palästinensischen Seite teilnehmen, schon, weil es dort bekanntlich seit achtzehn Jahren keine mehr gibt.
Am besten, ihr werft die ganze Antisemitismus-Debatte auf den Müll
Yuval wehrt sich wortreich gegen den Vorwurf des „Antisemitismus“, der offenbar gegen ihn erhoben wurde. Auch Claudia Roth, die Yuval am Abend der Preisverlehung laut applaudierte und ihn und seinesgleichen üppig mit deutschen Staatsgeldern fördert, betont, wie „weh ihr manche Vorwürfe tun“, wie ungerecht sie seien, zum Beispiel der des „Antisemitismus“. In der Tat, dieses Schlagwort ist verbraucht und irreführend wie die Groschen in meiner Kindheit in Berlin, auf denen schon das Metall abgerieben und die Schrift verwischt war.
„Antisemitismus“ – das Wort ist eine Erfindung von Wilhelm Marr und anderen deutschen Judenfeinden des späten neunzehnten Jahrhunderts, und es wirkt heute, da der aggressivste „Antisemitismus“ von Muslimen, also in den meisten Fällen selbst „semitischen“ Mitmenschen kommt, eher kontraproduktiv. Es taugt noch als Popanz im „Kampf gegen Rechts“, aber am eigentlichen Problem geht es glücklich vorbei. Am besten, ihr werft die ganze deutsche „Antisemitismus“-Diskussion, mitsamt Michael Blume und allen anderen „Antisemitismus-Beauftragten“, auf den Müll.
Ich würde also Yuval Avraham nicht als „Antisemiten“ bezeichnen. Aber er ist ein junger Mann, der gern schwindelt. Meine Großmutter im alten jüdischen Berlin der Zwanziger hätte ihn einen „Filou“ genannt (ein Wort aus dem Hugenotten-Französisch, das damals in Berlin genauso heimisch war wie das Jiddische) oder, noch etwas schärfer, einen „Schlawiner“. Mon dieu, was für Wörter! Beide Begriffe werden im sprachgereinigten Deutschland von heute sicher als „rassistisch“ oder gar „antisemitisch“ empfunden und sind gewiss bei Strafe verboten.
Um nicht selbst den Vorwurf des „Antisemitismus“ auf mich zu lenken, den Blitzschlag eines Rufmord-Gewitters, betone ich, dass meine Großmutter sie meist mit humoristischem Unterton benutzte. Sie hatten allerdings den Vorteil, dass ich sofort verstand. Wenn sie mich zum Beispiel zum Lebensmittelhändler schickte, sagte sie: „Pass auf, wenn er dir den Hering abwiegt – der Mann ist ein Schlawiner.“ Und dann wusste ich, dass sie diesen Mann für einen Schwindler hielt und dass ich vorsichtig sein musste bei allem, was er mir mit schönen Worten verkaufte. Ich grüße Dich aus Deiner verratenen Heimat, Yuval. Und weiterhin viel Glück in Berlin!
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland.
Lesen Sie von Chaim Noll auch sein in der Achgut.com Edition erschienenes Buch „Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben". Eine Ansage aus dem Exil in Israel. 200 Seiten, 19 Euro, bestellbar hier im Achgut.com Shop