Als Kind waren Reisen nach Holland für mich das größte. Der weite Blick durch fensterlose Gardinen öffnete meinen Horizont. Und das Gespür der Holländer für Unendlichkeit kommt mir immer dann in den Sinn, wenn ich an die ewig gleiche deutsche Politik denke.
Im verlorenen Osten war meine richtige Heimat. Da gab es Oma und Opa, meine Cousine, einen Hund, eine Kuckucksuhr und einen Garten mit Rhabarber. Im Westen, wo wir als Flüchtlinge lebten, war es allerdings auch nicht schlecht. Es hatte gewisse Vorteile. Wenn man im Westen lebte, konnte man wieder weg, man konnte reisen.
Für Leute, die am liebsten in der Heimat bleiben und gar nicht wegwollen, ist das natürlich kein Argument; aber für Leute, die zwischendurch mal wegwollen, war der Westen eindeutig besser, da konnte man reisen – und das wollte man gerade dann, wenn man keine richtige Heimat hatte, in der man für immer und ewig kleben wollte.
Der Blick in die Weite
Kein Wunder, dass es mich immer in den Westen gelockt hat, nach Holland. Richtig heißt es Niederlande, weil in diesem Land alles so niedrig ist, so flach, dass man bis in die weite Ferne schauen kann. Der Horizont ist weit weg. Da war nicht meine richtige Heimat, aber ich hatte das Gefühl, dass da die richtige Welt ist.
Die hübschen Häuser, die wie Puppenhäuser wirken, haben keine Vorhänge. Man kann von außen in die gute Stube hineingucken und sehen, wie da jemand zufrieden an seinem aufgeräumten Tisch sitzt und Kakao trinkt. Manchmal kann man sogar auf der anderen Seite aus dem gegenüberliegenden Fenster, an dem es ebenfalls keinen Vorhang gibt, wieder raus- und in das nächste Haus reingucken, wo der nächste Holländer an seinem Tisch sitzt und seinen Kakao trinkt, und dann immer so weiter, weiter und weiter, bis in die endlose Weite, bis in die Unendlichkeit.
Oder bis nach China. Ich war schwer beeindruckt, als mir jemand erklärte, dass selbst ein kleines Städtchen wie Delft schon früh Handelsverbindungen nach China hatte. Das wollte ich auch. Ich wollte wie ein Niederländer sein und merkte mir gleich die ersten chinesischen Vokabeln, die ich aufgeschnappt hatte: „Nasi Goreng“ und „Bami Goreng“. Ich hielt sie jedenfalls für chinesische Vokabeln.
Hier war die große weite Welt. In Amsterdam gab es ein richtiges China-Town, in dem man frei herumlaufen konnte und sich so fühlen konnte wie Mecki bei den Chinesen. In Osnabrück, wo ich zum Gymnasium ging, wäre das undenkbar. Da konnte man lateinische Vokabeln lernen, aber keine chinesischen. Osnabrück war weit weg von China. Amsterdam war rein geografisch gesehen noch weiter weg – und dennoch näher dran. Die Holländer hatten eine Weitsicht, die durch die Häuser hindurchführte und sie hatten lange Leitungen, die in die weite Welt hineinreichten. Da gehörte ich hin.
Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung
Holland war also schon früh mein Sehnsuchtsort. Da ist es nicht überraschend, dass ich da auch große Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung erlebt habe. Sie haben sich tief eingeprägt und wirken immer noch nach; selbst nach einer dermaßen langen Zeit, dass sie einem wie eine Ewigkeit vorkommen.
Fußballweltmeisterschaft 1966, Deutschland im Endspiel gegen England. Wir waren gerade in den Ferien in Holland, und ich hatte das Glück, dass ich das sensationelle Spiel auf eine Art erleben konnte, wie es in Osnabrück nicht möglich gewesen wäre. Ich saß mit einem Kakao in einer Kneipe, in der sich alle um das Fernsehen drängten wie Tiere um eine Futterstelle. Alle waren hibbelig, wie man es bei einem Ereignis von internationaler Bedeutung auch erwarten kann. Doch es waren sich nicht alle einig. Etwa die Hälfte war für Deutschland, die andere Hälfte für England. Hier konnte ich zum ersten Mal erleben, dass es stets zwei Weltanschauungen gibt, zwei Seiten einer Münze. Das wusste ich zwar schon, doch ich hatte es noch nie in so einer Unmittelbarkeit erlebt.
Es sah ganz so aus, als würde England gewinnen. Einige freuten sich schon. Es kam richtig Stimmung auf. Die Deutschen lagen zurück, spielten aber wie die Weltmeister, sie waren eindeutig besser und tatsächlich gelang ihnen auf dem allerletzten Drücker der verdiente Ausgleich zum 2 zu 2. Damit hatte Deutschland eigentlich gewonnen. Nun freuten sich die anderen. Die Spannung stieg.
Es ging in die Verlängerung. Da kam es zu dem weltberühmten dritten Tor von Wembley, von dem man nicht wusste, ob es ein Tor war oder nicht. Der Schiedsrichter wusste es auch nicht! Er musste den Linienrichter fragen, ausgerechnet einen Russen. Die Stimmung war hinüber. Das Spiel war ruiniert.
Ich hatte noch nie so ein aufregendes Spiel erlebt. Zugleich so eine Ratlosigkeit. Auch später nicht. Ich hatte das spielentscheidende dritte Tor erlebt, ich war persönlich Zeuge gewesen und hatte mit eigenen Augen gesehen, dass da nichts zu sehen war. Ich habe erlebt, wie die Welt von einer Sache bewegt wurde, die es vielleicht gar nicht gab.
Da war nichts
Jahre später war ich in den Sommerferien mit meinem Vater zuerst in Brüssel, wo wir das berühmte Atomium besichtigt haben und mir deutlich wurde, dass im Westen nicht nur das richtige Leben spielte, sondern auch die Zukunft schon angefangen hatte, dann ging es nach Amsterdam.
Normalerweise war ich in den Ferien mit der Mutter in den Osten gereist zu Oma und Opa, zur Kuckucksuhr und zur Cousine. Mein Vater durfte nie mitkommen, weil er fürchten musste, verhaftet zu werden. Nun wurde es auch für mich gefährlich. Genau wussten wir das nicht. Ich galt als Bürger der DDR, vorübergehend wohnhaft in der BRD. Bisher war das kein Problem gewesen, doch nun war ich zu alt, ich hatte Post von der Regierung der DDR gekriegt. Ich sollte an Sportübungen teilnehmen, bei denen man schießen lernt und außerdem kriegte ich eine Benachrichtigung, dass ich bald wählen dürfte.
Sicherheitshalber fuhr ich diesmal in den Sommerferien nicht mit Mami in den Osten, sondern mit meinem Vater in den Westen. Auch gut. Da konnte man was erleben, was weder in Osnabrück noch in Wittenberg möglich war. Wir sind sogar in einen Nachtclub gegangen, in dem man bestimmt erst ab 18 oder erst ab 21 reindurfte. Ich war erstaunlich groß für mein Alter und hatte zum ersten Mal einen Anzug an, in dem ich mich allerdings nicht wohl fühlte. Immerhin war ich damit richtig angezogen für eine Striptease-Show, die mir etwas offenbaren würde, das ich bisher noch nicht kannte und das man nur im freien Westen kennenlernen konnte.
Auf der Bühne ritt eine Frau in einem einteiligen Badeanzug auf einem Holzpferd, wie man das von einem Kinderkarussell kennt. Es war eine geheimnisvolle Show mit Flackerlicht, moderner Musik und einem aufwändigen Bühnenbild. Die Frau war viel zu alt für mich, um Begehrlichkeiten zu wecken. Sie war ungefähr ein Leben lang zu alt für mich. Für die anderen Zuschauer war sie vermutlich ein Leben lang zu jung. Es passte alles nicht richtig zusammen. Ich war eindeutig fehl am Platz. Aber aufregend war es allemal. Und rätselhaft. Was sollte das? Schließlich stieg sie umständlich vom Karussell-Pferd, nahm sich ein großes Foto, auf dem offenbar ihr Freund abgebildet war – oder ein berühmter Schauspieler – und klemmte sich das zwischen die Schenkel. Dann rieb sie das Foto an ihren Beinen hin und her, als wäre auf dem Foto etwas drauf, mit dem man sich einreiben konnte wie mit Sonnenöl. Und nun? Wieder wurde ich Zeuge einer spielentscheidenden Szene, bei das, worauf es ankam und worum sich eigentlich die ganze Inszenierung drehte, gar nicht zu sehen war.
Nun ging es richtig los
Als ich zur Toilette ging, fiel mein Blick auf einen Kalender, und es traf mich wie ein Schreck: Ich hatte Geburtstag. Ich war ab sofort 17. Die ganze Reise war so aufregend und so sehr mit Bedeutung aufgeladen gewesen, dass ich glatt meinen Geburtstag vergessen hatte.
Nun war ich fast im richtigen Alter. Noch war der Vorhang zur Bühne, auf dem das Stück des Lebens aufgeführt wurde, zugezogen, aber ich hatte schon den Lichtschein gesehen. Gleich würde es losgehen. Ich konnte ernsthaft über einen Führerschein nachdenken und war endlich im richtigen Alter für eine Freundin. Jetzt ging die Weltgeschichte los und ich war als vollwertiger Teilnehmer dabei.
Auf dem Rückweg zum Hotel wurde das sogleich bestätigt. Die Welt war verändert. Die anderen Passanten waren inzwischen ebenfalls zu Teilnehmern an der Weltgeschichte geworden. Sie wirkten seltsam hibbelig. Sie strömten zum Rathaus und blieben stehen. Da gab es etwas, was es beim historischen Rathaus in Osnabrück nicht gab und man sich da auch nicht vorstellen konnte. So etwas hatte ich noch nie gesehen: Da war eine riesige Leuchtschrift an der Fassade des Rathauses, die Buchstaben huschten von links nach rechts und buchstabierten die Nachrichten des Tages, die neuesten Sensationsmeldungen.
Natürlich auf Holländisch, aber ich konnte es sofort verstehen: Attentat auf Rudi Dutschke. Das bedeutete Bürgerkrieg. Den Startschuss dazu erlebte ich gerade in Amsterdam. Wenn wir zurückkämen nach Deutschland, würden da wahrscheinlich die Massen schon aufgeregt durch die Straßen laufen.
Ich hatte entsprechende Bilder in den Nachrichten gesehen und hatte die Sprechchöre im Ohr: „Dubček, Dubček“, hatten die aufgewühlten Massen gerufen. Das klang so ähnlich wie Dutschke. Die beiden gehörten irgendwie zusammen. Dieser Dubček war so etwas wie ein Volksheld oder ein Revolutionsführer in der Tschechoslowakei, genau wusste ich das nicht. Prag lag auch hinter dem Todesstreifen. Da konnte man nicht so einfach hin wie nach Amsterdam. Nun war es passiert. Nun waren die Aufstände im Osten bis in den Westen vorgedrungen.
Der Kakao ist immer noch da
Neulich war ich wieder in Holland. Diesmal als alter Mann. Doch das Holland meiner Kindheit gibt es noch, es vergeht nicht. Es gibt immer noch diesen Kakao, den ich immer mit den Häusern ohne Vorhang und mit dem Blick in die Unendlichkeit in Verbindung bringe.
Die Packung sieht so aus: Vorne ist ein Meisje abgebildet, die in ihrer Hand eine Packung Kakao hält. Eine Packung derselben Marke mit demselben Bild. Darauf ist, nun schon sehr stark verkleinert, zu erkennen, dass da ebenfalls ein Meisje abgebildet ist, die auch so eine Packung in ihrer Hand hält, auf der – nun kaum noch zu erkennen – ein weiteres Meisje mit der Packung Kakao zu erkennen ist.
Man kann sich das immer weiter denken bis in die Unendlichkeit. Wenn man so eine Packung Kakao in der Küche vorrätig hat, ist es, als hätte man von da aus einen immer kleiner werdenden Tunnel in die Unendlichkeit.
Der Kakao heißt „Droste“. Das ist der Markenname. Ich kann nicht anders. Die Ähnlichkeit drängt sich auf, wie die von Dutschke und Dubček. Auch der PCR-Test von Drosten führt uns in unendliche Tiefen, Zyklus um Zyklus um Zyklus. Der Test erkennt in den Niederungen der unendlichen Tiefe winzige Restbestände von einem Virus, die, um sie nachzuweisen, so vergrößert werden müssen, als hätte man tausend Kakao-Packungen der Marke „Drosten“ hintereinander aufgestellt.
So konnte man behaupten, dass da etwas war, das es vielleicht in Wirklichkeit gar nicht gibt; etwas, das man nie und nimmer sehen kann, dem aber eine spielentscheidende Bedeutung zugemessen wird. Falls man uns damit nicht sowieso alle durch den Kakao gezogen hat.
Lesen Sie nächste Woche: Holland und der blühende Unsinn.
Bernhard Lassahn, geboren 1951, ist ein deutscher Schriftsteller. Lassahn begann als Liedermacher und Verfasser von satirischer Prosa. Er schreibt Romane und Sachbücher über Musik und Geschlechterfragen. Seit den 1990er Jahren schreibt er vorwiegend Kinderbücher. Zusammen mit Walter Moers und Rolf Silber verfasste er „Geschichten von Käpt’n Blaubär“ für „Die Sendung mit der Maus“. Er lebt in Berlin und tritt dort regelmäßig im Zebrano-Theater auf.