Es kursiert ein Pro-Impfung-Gedicht, das Kurt Tucholsky zugeschrieben wird, jedoch aus der Feder eines Titanic-Autors stammt. Der echte Tucholsky hat jedoch tatsächlich einen Satire-Text über die Grippe und ihre Therapie geschrieben ...
Beinah wäre es passiert: Daniel Cohn-Bendit hätte sich beinahe blamiert. So sieht es jedenfalls Elisa David, die in Tichys Einblick über einen bemerkenswerten Vorfall bei Maybrit Illner berichtet. Cohn-Bendit stand kurz davor, ein Gedicht von Kurt Tucholsky vorzutragen – „vor 93 Jahren zur Impfdebatte.“
Das Gedicht heißt „Zur Versachlichung der Impfdebatte“, es stammt aus dem Jahr 1928 und bezog sich auf die damals aktuelle Diphterie-Impfung: „Die Ungeimpften sind nicht schlechter, nur weil sie Ignoranten sind. Sie sind Immunsystemverfechter, für gute Argumente blind und mehrenteils verrückt geworden. Sie fallen allen nur zur Last, und doch: Man soll sie nicht ermorden, fürs erste reicht ja auch der Knast.“
Ein Fake. Das Gedicht ist nicht von Tucholsky.
Es stammt vom Titanic-Autor Cornelius Oettle. Die Blamage für Cohn-Bendit wurde gerade noch rechtzeitig verhindert, weil ihm Maybrit Illner, die den Text offenbar kannte, „geistesgegenwärtig“ den Vortrag mit den Worten „Mmmh, später vielleicht“ verweigerte und die ebenfalls anwesende Bettina Schausten sofort das Wort ergriff und ablenkte.
Wer wusste von der Fälschung?
Aber wäre es wirklich eine Blamage für Cohn-Bendit gewesen? Nicht nur für ihn, wie Elisa David meint, sondern auch für andere Hardliner, die eine Impfpflicht fordern und sich mit solchen Fehlgriffen als Ignoranten erwiesen hätten, die auf Fake News reinfallen.
Hat Cohn-Bendit wirklich nicht gewusst, dass das Gedicht eine Fälschung ist? Da bin ich nicht sicher.
Hat er wirklich ein derart jämmerliches Geschichtsverständnis, dass ihm nicht klar ist, dass hier eine Parallele behauptet wird, die so nicht existiert hat? Selbst wenn es gewisse Ähnlichkeiten gegeben haben sollte, weiß er wirklich nicht, dass man die nicht eins zu eins gleichsetzen kann? Möglich ist es.
Hat er wirklich ein derartig stumpfsinniges Kunstverständnis, das nur auf Signalreize reagiert, dass er den Braten nicht sofort gerochen hat, obwohl er gut zu riechen war? Möglich ist es.
Möglich ist aber auch, dass er so abgebrüht ist, dass es er solche Nebengeräusche billigend in Kauf genommen hätte und hier in erster Linie die große Chance gewittert hat, auf großer Bühne den Eindruck zu erwecken, dass es eine Debatte um Impfstoffe schon zu anderen Zeiten gegeben hat und die großen Geister damals schon ausgesprochen haben, was immer noch Gültigkeit hat und heute wieder gesagt werden muss.
Irgendwas bleibt immer hängen
Möglicherweise hat er sich gedacht: Irgendwas bleibt immer hängen. Das Massenpublikum sieht das nicht so eng und achtet nicht auf Feinheiten, die man lieber irgendwelchen unbedeutenden Germanisten überlässt. Hauptsache name-dropping.
Ich traue ihm zu, dass er skrupellos ist und keine Hemmungen hat, mit Täuschungen zu operieren: Hauptsache beim dummen, deutschen Fernsehschauer kommt die Botschaft an, dass harte Maßnahmen bis hin zu Gefängnisstrafen (es muss ja nicht gleich Mord sein, seien wir großzügig …) durchaus angebracht sind gegen diese lästigen Ignoranten, die sich partout nicht impfen lassen wollen.
Das ist so. Das war schon früher so. In dem Punkt ist die Wissenschaft einer Meinung. Die Presse auch. Die Politik sowieso – und eben auch die bedeutenden Künstler der Vergangenheit und Gegenwart. Schiller würde Masken tragen (das hatte Christian Drosten gesagt). Tucholsky würde Impfverweigerer einsperren lassen (das hätte Daniel Cohn-Bendit beinahe gesagt).
Ich möchte mich nicht entscheiden müssen: Ist hier eine Blamage verhindert worden oder eine bewusste Fehlinformation? Kommt es da überhaupt noch darauf an? Es wäre nicht das erste Mal, dass auf der großen Bühne Fehlinformationen verbreitet worden wären und sich die Panikmacher blamiert hätten.
Was hat Tucholsky wirklich gesagt?
Was hat denn nun Kurt Tucholsky wirklich gesagt? Natürlich hat er nichts zu den Impfgegnern von heute gesagt. Auch nichts zu Corona. Aber zur Grippe hat er etwas gesagt – zur Influenza. Er hat uns Rezepte gegen Grippe empfohlen.
Ich konnte sie auswendig. Wir hatten damals nur wenige Platten: ‚Eine kleine Nachtmusik‘, ‚My Fair Lady‘, ‚Lotte Lenya singt Kurt Weill‘, ‚Stegreifgeschichten‘ von Jürgen von Manger (enthält ‚Führerscheinprüfung‘) und ‚Hildegard Knef. Ich seh die Welt durch deine Augen‘, sowie ‚Hildegard Knef singt und spricht Tucholsky‘.
Bitte schön:
Kurt Tucholsky als Peter Panter: Rezepte gegen Grippe
„Beim ersten Herannahen der Grippe, erkennbar an leichtem Kribbeln in der Nase, Ziehen in den Füßen, Hüsteln, Geldmangel und der Abneigung, morgens ins Geschäft zu gehen, gurgele man mit etwas gestoßenem Koks sowie einem halben Tropfen Jod. Darauf pflegt dann die Grippe einzusetzen. Die Grippe – auch 'Spanische Grippe', Influenza, Erkältung (lateinisch: Schnuppen) genannt – wird durch nervöse Bakterien verbreitet, die ihrerseits erkältet sind: die so genannten Infusionstierchen. Die Grippe ist manchmal von Fieber begleitet, das mit 128° Fahrenheit einsetzt; an festen Börsentagen ist es etwas schwächer, an schwachen fester – also meist fester. Man steckt sich am vorteilhaftesten an, indem man als männlicher Grippekranker eine Frau, als weibliche Grippekranke einen Mann küsst – über das Geschlecht befrage man seinen Hausarzt. Die Ansteckung kann auch erfolgen, indem man sich in ein Hustenhaus (so genanntes 'Theater') begibt; man vermeide es aber, sich beim Husten die Hand vor den Mund zu halten, weil dies nicht gesund für die Bazillen ist. Die Grippe steckt nicht an, sondern ist eine Infektionskrankheit.
Sehr gut haben meinem Mann ja immer die kalten Packungen getan; wir machen das so, dass wir einen heißen Griesbrei kochen, diesen in ein Leinentuch packen, ihn aufessen und dem Kranken dann etwas Kognak geben – innerhalb zwei Stunden ist der Kranke hellblau, nach einer weiteren Stunde dunkelblau. Statt Kognak kann auch Möbelspiritus verabreicht werden. Fleisch, Gemüse, Suppe, Butter, Brot, Obst, Kompott und Nachspeise sind während der Grippe tunlichst zu vermeiden – Homöopathen lecken am besten täglich je dreimal eine Fünf-Pfennig-Marke, bei hohem Fieber eine Zehn-Pfennig-Marke.
Die Schulmedizin versagt vor der Grippe gänzlich. Keinesfalls vertraue man dieses geheimnisvolle Leiden einem so genannten Arzt an; man frage vielmehr im Grippefall Frau Meyer. Frau Meyer weiß immer etwas gegen diese Krankheit. Bricht in einem Bekanntenkreis die Grippe aus, so genügt es, wenn sich ein Mitglied des Kreises in Behandlung begibt, die anderen machen dann alles mit, was der Arzt verordnet. An hauptsächlichen Mitteln kommen in Betracht: Kamillentee. Fliedertee. Magnolientee. Gummibaumtee, Kakteentee. Diese Mittel stammen noch aus Großmutters Tagen und helfen in keiner Weise glänzend. Unsere moderne Zeit hat andere Mittel, der chemischen Industrie aufzuhelfen. An Grippemitteln seien genannt: Aspirol. Pyramidin. Bysopeptan. Ohrolax. Primadonna. Bellapholisiin. Aethyl-Phenil-Lekaryl-Parapherinan-Dynamit-Acethylen-Koollomban-Piporol.
Bei letzterem Mittel genügt es schon, den Namen mehrere Male schnell hintereinander auszusprechen. Man nehme alle diese Mittel sofort, wenn sie aufkommen – solange sie noch helfen, und zwar in alphabetischer Reihenfolge, ch ist ein Buchstabe. Doppelkohlensaures Natron ist auch gesund.
Besonders bewährt haben sich nach der Behandlung die so genannten prophylaktischen Spritzen ('lac', griechisch; soviel wie 'Milch' oder 'See'). Diese Spritzen heilen am besten Grippen, die bereits vorbei sind – diese aber immer. Amerikaner pflegen sich bei Grippe Umschläge mit heißem Schwedenpunsch zu machen; Italiener halten den rechten Arm längere Zeit in gestreckter Richtung in die Höhe; Franzosen ignorieren die Grippe so, wie sie den Winter ignorieren, und die Wiener machen ein Feuilleton aus dem jeweiligen Krankheitsfall. Wir Deutsche aber behandeln die Sache methodisch: Wir legen uns erst ins Bett, bekommen dann die Grippe und stehen nur auf, wenn wir wirklich hohes Fieber haben: Dann müssen wir dringend in die Stadt, um etwas zu erledigen. Ein Telefon am Bett von weiblichen Patienten zieht den Krankheitsverlauf in die Länge.
Die glücklich erfolgte Heilung erkennt man an Kreuzschmerzen, Husten, Ziehen in den Füßen und einem leichten Kribbeln in der Nase. Diese Anzeichen gehören aber nicht, wie der Laie meint, der alten Grippe an, sondern einer neuen. Die Dauer einer gewöhnlichen Hausgrippe ist bei ärztlicher Behandlung drei Wochen, ohne ärztliche Behandlung 21 Tage. Bei Männern tritt noch die so genannte 'Wehleidigkeit' hinzu; mit diesem Aufwand an Getue kriegen Frauen Kinder.
Das Hausmittel Cäsars gegen die Grippe war Lorbeerkranz-Suppe; das Palastmittel Vanderbilts ist Platinbouillon mit weichgekochten Perlen. Und so fasse ich denn meine Ausführungen in die Worte des bekannten Grippologen Professor Dr. Dr. Dr. Ovaritius zusammen: Die Grippe ist keine Krankheit – sie ist ein Zustand!“