Von Joe Zammit-Lucia.
„Kein Schlachtplan überlebt den ersten Feindkontakt.“ Diese weisen Worte sprach einst der deutsche Militärstratege Helmuth von Moltke. Und genau so werden auch die Brexit-Verhandlungen ablaufen. Die britische Regierung erstellt fleißig Austrittspläne. Und 27 weitere Nationen arbeiten ihre eigenen Pläne aus. Vielleicht werden diese Ähnliches beinhalten wie die Pläne der EU-Kommission oder des Europäischen Parlaments. Oder vielleicht auch nicht. Die Wirklichkeit wird vielmehr so aussehen, wie Helmuth von Moltke es beschrieben hat. Sobald die Verhandlungen einmal ernsthaft begonnen haben, kann niemand vorhersehen, was dabei herauskommen wird.
Derzeit findet so etwas wie Verhandlungen lediglich über Reden, öffentliche Statements und Schlagzeilen statt. Alle Seiten bringen sich für den Tag in Position, an dem alle am runden Tisch Platz nehmen. Wie zu erwarten, wird gerade ein regelrechtes Schattenboxen veranstaltet, eine Menge Maulheldentum findet statt und es wird viel Unsinn geredet. Genau in diesem Kontext muss Theresa Mays Rede zu ihren Brexit-Zielen betrachtet werden.
Die britische Regierung weiß, dass ein Risiko für unausgewogene Verhandlungen besteht – und dass die EU sich in einer stärkeren Position befindet als Großbritannien. Es ist durchaus möglich (jedoch bei weitem nicht sicher), dass zwischen den EU-Mitgliedstaaten mehr Einigkeit herrschen wird als innerhalb der britischen Politik. Theresa Mays Rede zielte darauf ab, diese Perspektive zu verändern. Sie war der Versuch, Großbritannien die Möglichkeit zu verschaffen, bei den Verhandlungen nicht als Bittsteller, sondern als gleichberechtigter Verhandlungspartner aufzutreten.
Keine Rosinenpickerei
Eine wahrlich große Aufgabe. Doch die Premierministerin machte das Beste daraus. Die Rede enthielt im Grunde nur zwei oder drei wichtige Botschaften.
Zunächst einmal wurde (erstmalig) anerkannt, dass die vier Freiheiten der EU zusammengehören. Auf dieser Grundlage machte Theresa May deutlich, dass die britische Regierung der Kontrolle über die Einwanderung Priorität gegenüber dem Zugang zum Binnenmarkt einräumen würde. Indem sie die britische Bereitschaft zu diesem Verzicht verdeutlichte, wurde der EU das Druckmittel Binnenmarkt genommen.
Die zweite Botschaft der Rede war die Antwort auf die weitverbreiteten Befürchtungen in Europa: May betonte, dass es keine Rosinenpickerei geben werde. Die Premierministerin machte jedoch deutlich, dass dies für beide Seiten gelten müsse. Auch die EU dürfe sich nicht die Rosinen herauspicken und die weitere Zusammenarbeit mit dem britischen Militär und Geheimdienst sowie den Zugang zu den britischen Sicherheits- und Finanzkapazitäten erwarten, wenn sie Großbritannien umgekehrt den Zugang zu Handelsvereinbarungen verwehrt. Also einverstanden, keine Rosinenpickerei. Dies gilt allerdings für beide Seiten.
Abschließend verdeutlichte May, dass Großbritannien notfalls auch die Verhandlungen beenden und sein Wirtschaftsmodell neu ausrichten würde, um wettbewerbsfähig zu bleiben – jedoch nur, wenn die EU den Briten keine andere Wahl ließe. Auch diese Aussage war von grundlegender Bedeutung. Sind die Bedingungen unannehmbar, so muss man auch willens und fähig sein, das Gespräch zu beenden. Das weiß ein jeder, der schon einmal selbst in irgendeiner Form etwas ausgehandelt hat. Und die gegnerische Seite sollte diese Voraussetzung ernst nehmen. Daher musste die Premierministerin deutlich machen, dass sie auch diesen Schritt ergreifen würde.
Allenthalben Effekthascherei
Derzeit erleben wir auf allen Seiten eine ganze Menge Effekthascherei. Jeder möchte die Oberhand gewinnen. Doch das meiste ist nur heiße Luft. Diese „heiße Luft“ ist vielleicht jedoch unentbehrlich oder zumindest unvermeidbar. Statements und Reden sollten nicht immer ganz für bare Münze genommen werden. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass niemand dieses Gerede so ernst nimmt, dass die Verhandlungen letztlich unterminiert werden. Und hoffentlich ist am Ende auch keine der beiden Seiten so sehr von ihren öffentlichen Statements überzeugt, dass sie irgendwann selbst daran glaubt.
Bald wird es uns allen, so hoffe ich, zu langweilig, die ganze Zeit über den Brexit zu reden und zu schreiben. Je eher dies eintritt, desto besser. Denn dann kann endlich das ganze Getöse abebben und die ernsthaften Verhandlungen können beginnen. Hoffentlich, ohne dass sich eine der beiden Seiten dabei ins eigene Fleisch schneidet.
Joe Zammit-Lucia ist Mitverantwortlicher von radix.org.uk und Co-Autor des Buchs „The Death of Liberal Democracy?“. Er ist unter folgender E-Mail-Adresse zu erreichen: joezl@me.com