Frankreich zwischen den Wahlgängen: Nichts bleibt wie’s ist

Geht es in der Stichwahl auch um eine Entscheidung zwischen Tradition, Moderne und Postmoderne?

Wir können nur vermuten, was Emmanuel Macron und seine Berater sich gedacht haben, als sie nach ihrer Schlappe bei den „Europawahlen“ vom 9. Juni 2024 kurzfristig Neuwahlen zur französischen Nationalversammlung ausgerufen haben. Falls sie gehofft haben, damit klarere politische Verhältnisse zu schaffen, haben sie sich gründlich geirrt: Frankreich und wahrscheinlich die ganze EU stehen nach dem 30. Juni vor chaotischen Entwicklungen. 

Als ich diese Zeilen niederschrieb, war das amtliche Endergebnis der Wahlen noch nicht bekannt. Es gab nur mehr oder weniger realistische Schätzungen von Meinungsforschungsinstituten. Danach hat das Rassemblement National (RN) Marine Le Pens unter dem jungen Spitzenkandidaten Jordan Bardella (28) mit 33,4 Prozent der Stimmen diese Wahl klar gewonnen, aber gegenüber den letzten Umfragen, die auf 35 Prozent kamen,  etwas weniger Wählerzuspruch erreicht. Das genügte, um die Pariser Börse gestern freundlich zu stimmen. Auf dem zweiten Platz folgt die neue linksradikal-grüne Volksfront (NFP) unter dem Trotzkisten Jean-Luc Mélenchon mit 27,9 Prozent. Die hastig zusammengezimmerte Präsidentenpartei „Esemble“ (Ens) bleibt mit 19,9 Prozent der Stimmen abgeschlagen auf dem dritten Platz. Der Rest der gemäßigt rechten „Les Républicains“ bekommt nach dem Überlaufen ihres Vorsitzenden Eric Ciotti zu Le Pen um die 10 Prozent der Wählerstimmen. 

Jordan Bardella möchte die Chance, Premierminister zu werden, nur dann ergreifen, wenn das RN in der Stichwahl am 7. Juli die absolute Mehrheit erreicht. Diese liegt bei 289 Sitzen. Ob RN die erreichen kann, ist alles andere als sicher. Das hängt stark vom Wahlverhalten der Macron- und Republikaner-Wähler ab.

Macron und sein Noch-Premierminister Gabriel Attal haben ihren Kandidaten nach einigem Hin und Her aufgetragen, sich in der Stichwahl zurückzuziehen, wenn RN führt, die eigene Partei jedoch auf dem dritten Platz gelandet ist. Vergleichbares hatten Mélenchon und sein Generalsekretär Manuel Bompard ihren Wählern schon vorher empfohlen.

Dreieck statt Duell

Da die französische politische Landschaft nun im Prinzip in drei Blöcke geteilt ist, wird es dieses Mal im zweiten Wahlgang statt klarer Duelle nicht weniger als 306 offene Dreieck-Situationen, davon 244 zwischen RN, NFP und Ens, und sogar fünf Viereck-Konfrontationen geben. Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahre 2022 gab es nur sieben vergleichbare Konstellationen. Da hängt viel davon ab, ob und wieweit die Wähler den Wahlempfehlungen ihrer Favoriten folgen. Wobei zu beobachten ist, dass die Wähler in letzter Zweit immer weniger Wahlempfehlungen, sondern ihrem Eigensinn folgten.

An der Stichwahl kann nur teilnehmen, wer im ersten Wahlgang mindestens 12,5 Prozent der Stimmen erhalten hat. Wer das soweit geschafft hat, muss sich bis morgen Abend um 18 Uhr entscheiden, ob er seine Kandidatur aufrecht erhält oder zurücktritt.

Neben der Rekordzahl von offenen Dreiecksverhältnissen gab es bei den gestrigen Wahlen aber auch eine erstaunlich große Zahl von Kandidaten, die sich bereits im ersten Wahlgang durchsetzen konnten, und zwar 76, davon 39 für das RN und 32 für die NFP. Nur im Jahre 2007 wurde diese Zahl überboten.

Der Hass auf Macron und seine EU-freundliche Politik ist bei den Wählern der NFP mindestens genauso groß, wenn nicht noch größer als bei den Anhängern des RN. Sie könnten der indirekten Empfehlung Mélenchons, in der Stichwahl gegen RN und für „Ensemble“ zu stimmen, um ein neues 1933 abzuwenden, nur mit Wäscheklammern auf der Nase folgen. Wie weit sie das tun werden, ist völlig ungewiss.

Klar ist einstweilen nur, dass die Wahlbeteiligung am 30. Juni mit etwa zwei Dritteln der Wahlberechtigten einen historischen Höchststand erreichte. Wobei man wissen muss, dass es in Frankreich keine Meldepflicht gibt. Wer wählen will, muss sich eigens in ein Wählerverzeichnis eintragen lassen und eine Wählerkarte beantragen. Die damit verbundenen bürokratischen Formalitäten und Behördengänge schrecken viele ab. Viele einfache Menschen denken deshalb gar nicht daran, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. 

Bekenntnis zur Nation

Schon jetzt ist absehbar, dass in der Stichwahl das Bekenntnis zum Konzept der Nation beziehungsweise zum Patriotismus die Rolle des Lackmus-Tests spielen wird. Wobei man wissen sollte, dass das moderne  Verständnis von Nation im Wesentlichen von einem Linken, dem umfassend gebildeten Philologen Ernest Renan formuliert wurde. (In Deutschland wäre der Sozialdemokrat Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes, vielleicht mit ihm vergleichbar.)

Heute möchten sowohl die Sozialisten als auch die Anhänger Macrons von diesem Konzept nichts mehr wissen und haben deshalb auch im Prinzip kein Problem mit der Politik der offenen Grenzen und der Kapitulation gegenüber dem Islamismus, die die Anhänger Mélenchons predigen. Es wird beim bevorstehenden Duell zwischen linksradikaler Volksfront, globalistischem Macronismus und dem Rassemblement National also um die Auseinandersetzung zwischen Moderne und Postmoderne gehen. Dazu vielleicht mehr nach der Stichwahl am 7. Juli.

Für den Fall, dass Jordan Bardella wider Erwarten von Staatspräsident Macron doch zum Premierminister ernannt werden sollte, haben namhafte Vertreter des „tiefen Staats“ wie Spitzenbeamte und regierungsfreundliche Medien-Milliardäre bereits ihren Widerstand angekündigt. Das dadurch geförderte Chaos würde vergrößert durch die Drohung Tausender von Verantwortlichen des zentralisierten Erziehungswesens, den Anweisungen einer RN-Regierung nicht folgen zu wollen. Das Monstrum „Éducation Nationale“ wird in der Tat seit über 100 Jahren von der Linken beherrscht. Da könnten patriotisch gesinnte Minister leicht auf Granit beißen.

 

Edgar L. Gärtner ist studierter Hydrobiologe und Politikwissenschaftler. Seit 1993 selbständiger Redakteur und Berater, als solcher bis 1996 Chefredakteur eines Naturmagazins. Bis Ende 2007 Leiter des Umweltforums des Centre for the New Europe (CNE) in Brüssel. In Deutschland und in Südfrankreich ist er als Autor und Strategieberater tätig.

Foto: Montage achgut.com

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Marc Fischer / 02.07.2024

Als Schweizer wundert sich man doch sehr über die Wahlmodi in unseren Nachbarländer…

Hans-Peter Dollhopf / 02.07.2024

(I.) “Auf dem zweiten Platz folgt die neue linksradikal-grüne Volksfront (NFP) unter dem Trotzkisten Jean-Luc Mélenchon mit 27,9 Prozent.” ABER: (II.) “Das Rassemblement National [hat] mit 33,4 Prozent der Stimmen diese Wahl klar gewonnen, aber gegenüber den letzten Umfragen, die auf 35 Prozent kamen, etwas weniger Wählerzuspruch erreicht.” —> “Das genügte, um die Pariser Börse gestern freundlich zu stimmen.” Häh? Die Börse sei freundlich gestimmt, obwohl die Trotzkisten ante portas? Ist doch wohl ein Witz, Herr Gärtner!

Steffen Lindner / 02.07.2024

Gemach, gemach… Ich halte den Jubel über mögliche Veränderungen ohnehin für verfrüht. Es wird so laufen wie in Deutschland bei Stichwahlen: Die vermeintlich „ Guten“  werden sich gegen „die bösen Rechten „ verbünden, um deren Regierungsübernahme zu verhindern. Auch nach den Landtagswahlen im Osten Deutschlands bleibt alles wie gehabt. Da die Linkspartei selbst dort den Menschen nicht mehr vermittelbar ist, wurde ihr in Gestalt des gezielt installierten BSW und ihrer telegenen Vorsitzenden zum wiederholten Male ein neues Etikett aufgeklebt, das die alten kommunistischen Inhalte verdecken soll. Die Koalitionen mit der CDU werden schon vorbereitet. Dass die letztere, den inzwischen grünen Kern mühselig schwarz übertüncht, noch relevante Wählerschichten binden kann zeigt, dass es selbst im Osten der Mehrheit noch nicht schlecht genug geht.

Tobias Meier / 02.07.2024

So genau kenne ich mich in der französischen Parteienlandschaft nicht aus, aber auf mich entsteht der Eindruck, dass Le Pens RN in den letzten Jahren vglw moderat geworden ist und deutlich weniger extrem daherkommt, als am anderen Ende des politischen Spektrums der NFP. Dass Macron und seine Lakaien im Zweifel trotzdem eher mit dem NFP gemeinsame Sache machen würden, wirft kein gutes Licht auf ihn.

Karsten Kaden / 02.07.2024

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wenn die Möglichkeit bestünde, daß diese Neuwahl die französische Politik grundlegend ändert, hätte Macron sie nicht ausgerufen. Ich wette, daß Le Pen insgeheim längst auf den globalistischen NWO-Kurs getrimmt wurde und insbesondere an der Migrationspolitik höchstens Scheinkorrekturen vornimmt. Schon die offene Abkehr von der AfD läßt nichts Gutes ahnen. Ich verweise als Beispielfall auf Meloni, die gleich nach ihrer Wahl ein Glaubensbekenntnis an das WEF absonderte.

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